Am 18. Oktober 2020 jährte sich der Aufstand in Chile zum ersten Mal. In Chile, den USA und darüber hinaus stehen wir am Schnittpunkt einer Pandemie, einer Wirtschaftskrise und wachsenden Aufständen gegen die Polizei. In dieser verworrenen Situation brechen die Forderungen nach Abschaffung der Polizei in einem Kontext aus, in dem sich viele Menschen vorstellen, dass nur ein verstärktes Eingreifen der Polizei diesen Moment der Krise bewältigen kann.
In den USA, zumindest auf der Ebene der Straßenmobilisierungen, hat der wachsende Wunsch, die Polizei abzuschaffen, die Sorgen über ein neues Konjunkturpaket oder ein Moratorium für Zwangsräumungen überschattet. Es scheint, dass der George-Floyd-Aufstand eine politische Krise hervorgerufen hat, die jede mögliche Krise, die eine aufkeimende Mietstreikbewegung hätte hervorrufen können, in den Schatten stellt. Jedes Mal, wenn es den Anschein hat, dass der Aufstand nachlässt, verbreitet sich ein weiteres Video eines Mordes durch die Polizei und es bricht erneut aus, mit einem neuen Ground Zero – Minneapolis, Louisville, Atlanta, Kenosha, Rochester. Eine große Anzahl von Menschen sind nun besorgt über die Selbstverteidigung der Gemeinschaft, nachdem sie unter der Gewalt der weißen Rassist:innen und der Brutalität der Bundes-Spezialeinheiten gelitten haben. Doch inmitten dieser neuen Sorgen stellt die anhaltende Wirtschaftskrise ein weiteres instabiles Terrain für staatliche Überwachung, Kontrolle und Unterdrückung dar. Wir bieten die folgenden Reflexionen aus dem vergangenen Jahr in Chile an, um die zentrale Frage der globalen Aufstände von 2019 zu beantworten: »Wie können wir ein Territorium in einer Weise umkämpfen, die es unregierbar macht?«
Wenn überhaupt, dann hat uns dieses vergangene Jahr der Revolte in Chile die Macht der Bewegungen gezeigt, die nicht in das Paradigma des sozialen Protestes kanalisiert sind, so wie es so viele Bewegungen in der Vergangenheit waren.1 In den Jahren 2011 und 2012 zielten die Plaza-Besetzungsbewegungen in Spanien und Griechenland, Occupy Wall Street und die Studentenbewegungen in Chile und Montreal darauf ab, die Spannungen zwischen den »friedlichen Demonstrierenden« und den »Agitator:innen von außen« aufzulösen, indem sie versuchten, direkte Aktionen vor einem neutralen, liberalen Publikum zu rechtfertigen. Vandalismus und Ausschreitungen wurden als die »Stimme der Unerhörten«, Konflikte mit der Polizei als die Verteidigung einer Zone für freie Meinungsäußerung dargestellt. NGOs und von der Regierung ernannte »Gemeinschaftsführende« waren oft erfolgreich in ihren Bemühungen zur Aufstandsbekämpfung und überzeugten die breite Öffentlichkeit davon, dass die Militanz auf der Straße kriminell oder radikal ist und friedliche, soziale Proteste ausnutzt.
Im Gegensatz dazu nahmen die Bewegungen des Jahres 2019 in Hongkong, Chile und anderswo das Mantra »be water« auf und führten zu spontanen Zusammenstößen mit der Polizei, als sich die Crews in Menschenmengen zusammenschlossen, nur um sich zu verstreuen und sich dann an anderen Orten wieder neu zu formen. Anstatt symbolische Proteste außerhalb der wahrgenommenen Machtinstitutionen zu veranstalten, griffen Straßenmobilisierungen Polizeireviere, Büros, Autobahnen und die materielle Infrastruktur der Macht an. Eine neue Generation von Frontlinern (die primera línea) entstand, die lernten, wie man Straßen blockiert und gegen die Polizei kämpft, um das, was bei Demonstrationen möglich ist, grundlegend umzugestalten.
Das vergangene Jahr der Revolte in Chile deutet auf einen Kampfansatz hin, der nicht versucht, die Spannungen zwischen »friedlichen« und »militanten« Demonstrierenden oder »guten« gegen »schlechten« Randalierenden zu lösen. Vielmehr wird versucht, die Spannung zwischen den Bewegungen auf der Straße und den verschiedenen Kämpfen außerhalb der Straßenmobilisierungen zu lösen. Wie die anderen Aufstände von 2019-2020 begann der chilenische Aufstand nicht mit einem sozialen Protest, der Forderungen stellte, sondern mit der Blockade der Infrastruktur. Evasion masiva (Massenausweichung), eine Bewegung gegen eine U-Bahn-Fahrpreiserhöhung in Santiago, eskalierte schnell zu einem landesweiten Aufstand. In der Nacht des 18. Oktober 2019 kam es zu Unruhen, nachdem die Polizei die U-Bahn schloss und sich Gerüchte verbreiteten, dass sie einen Oberschüler getötet hatten. Um den Aufständen Einhalt zu gebieten, schickte die Regierung das Militär auf die Straße und verhängte eine Ausgangssperre. Dies schuf die Voraussetzungen für zügellose Polizeigewalt und Folter, die die Flammen nur anfachten. Der Aufstand breitete sich landesweit aus.
Als die Proteste im ganzen Land weitergingen, versammelten sich die Menschen spontan zu den größten Protesten in Santiagos Durchgangszentrum, der Plaza de la Dignidad (ehemals Plaza Italia). Wie in Hongkong kämpften die Demonstrierenden der vordersten Front – la primera línea – mit Schilden, Schleudern und Schutzkleidung gegen die Polizei. Die Straßenschlachten zwischen der primera línea und der Polizei auf der Plaza Dignidad waren jedoch nur ein Teil der allgemeinen Revolte in Chile.
Die chilenischen Rebell:innen weigerten sich, innerhalb des Paradigmas des sozialen Protests zu agieren, was den Kampf über die Straßenmobilisierung hinaus ausweitete und die verschiedenen Terrains, die sie bewohnen, umwandelte. Indigene holten sich Land zurück und blockierten ländliche Autobahnen; nicht lizenzierte Straßenverkäufer:innen errichteten neue, nicht genehmigte Straßenmärkte; arme Familien besetzten Land und bauten illegale städtische Gemeinschaften; inoffizielle Hilfsinitiativen kämpften gegen die Überwachung und Kontrolle durch die Regierung. Die Kraft und Intensität des Aufstandes vom Oktober 2019 lag in der Heterogenität der Kämpfe in ganz Chile, unter dem Motto »bis die Würde zur Gewohnheit wird« (hasta la dignidad sea un costumbre). Die Unterschiedlichkeit der Art und Weise, wie die Menschen um die Regelung ihres Lebens stritten, zeigte, dass die Menschen auf der Straße waren, weil der Alltag elend, entfremdend und verunglimpfend geworden war. Die Kräfte, die versuchten, die Situation zu stabilisieren, mussten sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Millionen von Menschen nun glauben, dass der einzige Weg, ein Leben in Würde zu beginnen, darin besteht, nie wieder in den normalen Zustand zurückzukehren. Selbst als die Bewegung das Territorium nicht halten und es grundlegend unregierbar machen konnte, gewannen die Teilnehmenden in den unaufhörlichen Kämpfen auf den Straßen ein neues Gefühl der Würde.
Der Rhythmus der Revolte
»Supermärkte und Geschäfte geplündert, weitere U-Bahnstationen und Busse verbrannt. Barrikaden im gesamten Zentrum von Santiago und in einigen seiner verarmten Randgebiete…
Szene Eins: In der Nähe des Cerro Santa Lucía um einen abgebrannten Bus herum. Seit dem Morgen haben sich die Leute dort versammelt und tanzten um ihn herum zu den Rhythmen, die sie auf das Metallgestell des Busses geschlagen haben… Sie klettern auf das verbrannte Gebilde, springen, schlagen darauf ein und tun so, als ob sie es ohne Ziel fahren würden, weil es sich nicht bewegt: es ist eine Revolte gegen die Bewegung von Gütern, die wir geworden sind. Ein alter Straßenmusikant sitzt drinnen und spielt seine Harfe.
Zweite Szene: Das Militär trifft auf der Plaza Italia ein, einem wichtigen Knotenpunkt in Santiagos Nervensystem seit dem Ende der Diktatur. Sie werden von den Carabinieros (Nationalpolizei) beschützt. Die Leute beschimpfen sie, beschämen sie und sagen ihnen, sie sollen verschwinden. Es ist nicht ihre Aufgabe, hier zu sein. Die Unruhen breiten sich in der Alameda aus. Richtung Plaza Italia liegen sechs verbrannte Busse. Die Leute verbreiten Gerüchte, dass die Polizei oder die Regierung sie in Brand gesteckt haben. Spielt das jetzt noch eine Rolle? Es ist egal, wer es getan hat, wichtig ist nur, dass sie verbrannt sind.
Dritte Szene: Ein geplünderter Supermarkt in Cerrillos. Das Nötigste wird mitgenommen. Die Menge trägt Fernseher und Konsumgüter zwischen den Decken, Windeln und verschiedenen Haushaltsgeräten. Viele der Waren werden auf die Barrikaden geworfen. Wenige Leute springen hinein, um die Gegenstände zu retten. Alkohol wird herausgebracht – einiges, um es jetzt zu trinken und einiges, um für später zu sparen. Der Aufruhr ist ansteckend, es gibt Lieder und Tänze.«
-Von Mejores Tiempos von Circulo de Comunistas Esotericas
Die chilenische Revolte war geprägt von einer neuen Gemeinschaft, die aus der Erfahrung auf der Straße geboren wurde, welche die seit langem bestehenden diskursiven Kategorien von kriminellen Straftäter:innen und friedlichen Demonstrierenden, von Agitator:innen von außen und lokalen Bürger:innen, sprengte. Beginnend mit den nächtlichen Ausgangssperren trafen sich die Menschen auf der Straße. Ältere Nachbar:innen schlugen Töpfe und Pfannen neben den brennenden Barrikaden, die die Jugend errichtete. Gruppen von Jugendlichen versammelten sich in den dunklen Gängen eines geplünderten Lebensmittelladens. Diese neue Gemeinschaft kommunizierte im Rhythmus der Revolte: Die Leute trafen sich, während sie auf den verbrannten Stadtbussen zu den Rhythmen tanzten, die sie auf ihr verkohltes Metallgestell schlugen. Sie kommunizierten durch Lächeln, Gesten und Lachen. Die Einzigen, die die Trennung zwischen Militanten und Pazifist:innen wahrnahmen, waren die Zuschauenden außerhalb dieser entstehenden Gemeinschaft der Revolte, die diese neuen Sprachen der Rhythmen und Körper nicht sprechen konnten.
Dem Zirkel der Esoterischen Kommunist:innen (el Circulo de Comunistas Esotericos) zufolge wurde der wirkliche Aufstand an dem Tag zum Tode verurteilt, an dem er in Proteste für eine verfassungsgebende Versammlung gelenkt wurde. Während alle auf den Straßen die Aussetzung der Normalität feierten, wünschten sich die selbsternannten Führer:innen der Linken und der Opposition der Regierung nichts sehnlicher, als schnell zu einem normalen Zustand zurückzukehren. Linke, Akademiker:innen, Journalist:innen und Beamt:innen behaupteten, dass das notwendige Ergebnis der Revolte ein Verfassungsreferendum sei. Ehemalige Anführer:innen der chilenischen Studentenbewegung von 2011, jetzt Politiker:innen, interpretierten den Aufstand schnell als eine Aussage über die maßlose Ungleichheit in Chile, das privatisierte Gesundheitssystem oder das unzureichende Rentensystem. Sie verbreiteten die Angst, dass das Militär einen neuen Staatsstreich inszenieren könnte, falls die Proteste eskalieren sollten. Sie behaupteten, dass die neue Gemeinschaft auf der Straße es vorziehen würde, ihre Teilnahme auf das bloße Ankreuzen eines Kästchens in einem Referendum zu beschränken. Am 15. November unterzeichneten die Regierung und die Oppositionsführer:innen ein Abkommen für ein Verfassungsreferendum, das im Jahr 2020 abgehalten werden soll, und viele linke Politiker:innen stimmten für das »Anti-Masken-, Anti-Plünderungs- und Anti-Barrikadengesetz« der Regierung. Trotz aller gegenteiligen Beweise glaubten sie, dass die Teilnehmenden der Bewegung sich einfach nur einige wenige neue Privilegierte in politischen Positionen wünschten.
Silvester und andere Party-Unruhen auf der Plaza Dignidad
Doch diese Versuche, die Menge in friedliche Demonstrierende und kriminelle Straftäter:innen zu trennen, scheiterten. Ein linker Politiker der Studentenbewegung von 2011, der das Verfassungsreferendum verhandelte, wurde sogar aus einem Protest verjagt. Die neue Gemeinschaft der Revolte setzte sich jeden Freitag auf der Plaza de la Dignidad fort, wobei sich alle Elemente zur Silvesterfeier 2019 massenhaft versammelten.
»Vor dem Neujahrsfest gab es einen Kampf um die Kontrolle zwischen der Stadt, der Polizei und der Bevölkerung. Die Stadt wollte die Feierlichkeiten entpolitisieren, während die Polizei sie einfach unterdrücken wollte – beides Strategien, um zu verhindern, dass das neue Jahr mit dem Ton von Mut, Kampf und Fürsorge eingeläutet wird, der die Versammlungen auf der Plaza de la Dignidad in den letzten drei Monaten bestimmt hat. Weihnachten und Sommerzeit hatten den Rhythmus der täglichen Proteste unterbrochen, und Neujahr war kein Freitag, so dass es schwer vorherzusagen war, ob die Aktion an diesem Abend an die Grenzen des Möglichen stoßen oder einfach nur Routine sein würde. Wir tauchten früh auf, als noch nicht so viele Leute da waren, denn es gab ein riesiges, offenes Abendessen auf der Plaza, an dem wir teilnehmen wollten.«
»Ich habe schon Komplimente dafür bekommen, dass ich mit Gasmaske und Wasserflasche ausgegangen bin, mir wurden sogar Bierdosen angeboten, nachdem ich schnell Tränengas gelöscht hatte, aber an Silvester war die Begeisterung auf einem anderen Level. Neben dem Dinnerbereich gab es eine kleine Bühne, und schon bald erhellte eine Live-Cumbia-Band die Menge. Als wir an einer der kämpferischen Kreuzungen ankamen, hatte die Frontlinie einen ganzen Block weiter eingenommen als üblich, und die Polizei war in einer Seitenstraße hinter einem Zaun weit zurückgedrängt. Der Wasserwerfer schoss sporadisch Sprühstöße aus, aber niemand war beunruhigt. Es war kurz nach Sonnenuntergang und der goldene Himmel spiegelte sich vom Boden, der mit Wasser aus dem Wasserwerfer bedeckt war, während die Encapuchados Steine, Feuerwerkskörper und Molotows auf die Polizei auf der anderen Seite des Zauns warfen. Wir liefen noch ein bisschen herum und im Parque Forestal stolperten wir über eine riesige Auswahl an Hors d’oeuvres, die von einer ganz normalen Großfamilie bewirtet wurden. Sie lassen Kleinkinder auf dem Schoß hüpfen und der Großvater, ein stattlicher älterer Mann in einem eleganten Polo mit einem um die Schultern gewickelten Pullover, bietet uns Wein und Snacks an. »Bitte«, besteht er darauf. Es gibt sogar kleine Kebabs mit Gemüse für die Veganer:innen. Ein Gerücht erreicht uns – es gibt ein weiteres Konzert, das auf der Markise eines Theaters in der Nähe stattfindet. Es ist Ana Tijoux! Wir überqueren den Platz durch Massen von Familien und Leuten, die Bier trinken und blinkende Kronen und Armbänder tragen, alles ist schön und glitzernd. Sogar die Statue in der Mitte des Platzes wird von Nachbar:innen aus einem nahe gelegenen Wohnhaus beleuchtet. Sie beendete das Konzert mit einer Zugabe von »Cacerolazo«, der ersten Hymne des Aufstandes, die nur drei Tage nach der ersten Nacht der Unruhen herauskam. Feuerwerk und Fackeln erfüllten den Nachthimmel. Ein riesiges Transparent spannte sich über den Platz, auf dem stand: »Nur durch Kampf können wir vorwärts kommen«. Alle schienen an diesem Moment festzuhalten und wollten ihn nicht enden lassen.«
– Auszug aus einem anonymen Silvesterbericht auf Radio Evasion
Regierungsbeamt:innen und die institutionelle Linke interpretierten die Feierlichkeiten auf der Plaza weiterhin als Proteste für eine neue Verfassung. Dennoch kamen alle auf die Plaza, um an den gemeinsamen Veranstaltungen teilzunehmen, um die Entfremdung des Alltags aufzuheben. Diejenigen, die kamen, um auf der Straße zu singen und zu tanzen, feierten weiterhin die Militanz von la primera línea. La primera línea ist keine politische Ideologie, sondern eine Erfahrung des Protests, der sich jede:r anschließen konnte. Es gibt keine Umfragen, die die Legitimität der primera línea in den Augen der Bevölkerung zeigen, aber Umfragen selbst werden nur von denen benötigt, die die Bevölkerung von ihrer Popularität überzeugen müssen. Jede:r in Chile weiß, dass sie die Held:innen des Oktobers waren – auf T-Shirts und Aufklebern ist Piñeras Abbild schließlich keine Massenware. Straßenverkäufer:innen verkauften während der Proteste Gasmasken, Laser und Schleudern, damit diejenigen, die wollten, an vorderster Front mitmachen konnten. In den Vierteln um die Plaza de la Dignidad bildeten die Bewohner:innen Versammlungen, organisierten Mahlzeiten für die Demonstrierenden und arbeiteten mit den Brigadas de Salud (Gesundheitsbrigaden) zusammen, um Feldkliniken in ihrer Straße einzurichten. Rescatistas (Rettungskräfte), bestehend aus Sanitäter:innen, Krankenpfleger:innen und Ärzt:innen, brachten die verletzten Demonstrierenden von der Front zurück in die Feldkliniken. Die Unterstützung der Bewegung zeigte sich eher in der materiellen Hilfe und den Ressourcen, die die Menschen auf der Straße zur Verfügung stellten, als in einer erklärten Befürwortung der Forderungen, die der Bewegung zugeschrieben wurden.
Den öffentlichen Raum umkämpfen
Im Laufe der monatelangen unstrukturierten Proteste in jeder chilenischen Stadt wurden wir Zeug:innen einer Transformation des öffentlichen Raums, die keine soziale Bewegung jemals als Forderung von den öffentlichen Institutionen gewinnen konnte. Die Revolte hatte Auswirkungen, die über den Raum und die Zeit der Straßenproteste hinausgingen, da die Staatsbeamt:innen Angst hatten, gegen die unkontrollierte Nutzung des öffentlichen Raums vorzugehen, aus Angst, weitere Reaktionen zu provozieren. Trotz eines neuen landesweiten Gesetzes, das die Strafen für Graffiti erhöhte, wurden die Innenstädte aller größeren Städte mit Straßenkunst überflutet. Wenn Beamt:innen mitten in der Nacht die Wände einer Stadt übermalten, war das lediglich eine Einladung an die Leute, am nächsten Tag zurückzukommen und die Stadt mit neuer Kunst zu überziehen.
Chilenische Städte gehörten den Menschen auf dem Bürgersteig in diesen Monaten der ausgesetzten Polizeieinsätze. In der südchilenischen Stadt Temuco verkauften indigene Bäuer:innen (Hortalizeras) ihre Produkte auf den Bürgersteigen der Innenstadt. Als wir die Hortalizeras Anfang 2020 besuchten, saßen wir neben unserer Freundin Carlota und ihrem ausklappbaren Tisch mit Linsen, Sellerie, Mangold und anderem Gemüse von ihrer Farm. Unsere Gespräche wurden ständig von Passant:innen unterbrochen, die sie begrüßten und fragten, wie es ihrem Hof und ihrer Familie geht, bevor sie ihre Produkte kauften. »Ich kenne viele meiner Kund:innen seit Jahren«, sagte sie, »ich richte mich jeden Tag auf demselben Bürgersteig ein, und die meisten meiner Kund:innen kommen täglich an meinen Tisch, um zu kaufen, was sie brauchen.« Am Ende des Tages tauschten die Frauen ihre Essensreste gegen Obst und Gemüse, das sie auf ihren Höfen nicht anbauen. Als sie ihre Tische abbauen, gibt es einen zweiten Ansturm von Straßenverkehr, als die Hortalizeras ihre unverkauften Produkte an die Einwohner:innen von Temuco verteilen.
https://twitter.com/joorge_p/status/1300127162197049344
Der Bürgermeister hat wiederholt versucht, die Hortalizeras zu vertreiben. Im September 2019 traf die Bereitschaftspolizei mit Guanacos (Wasserwerfer-Panzer) und Müllcontainern ein, um den Straßenmarkt zu schließen. Die Polizei versuchte, die Hortalizeras zu bestrafen und festzunehmen, nachdem sie ihr Gemüse und ihre ausklappbaren Tische zerstört hatten. Die Frauen wehrten sich und verhinderten die Verhaftungen viele ihrer Mitverkäuferinnen. Am Ende konnte die Polizei nur durch den erschütternden Sprühstoß der Guanaco den Markt räumen und elf Frauen und Kinder festnehmen.
Die Hortalizeras haben eine Gewerkschaft organisiert, die ihren Lebensmittelmarkt auf den Bürgersteigen mitverwaltet, um Gelder für die elf Frauen zu sammeln, die im September verhaftet wurden, und um bei der UNESCO einen Antrag auf Schutz gegen die Stadt aufgrund der Rechte der Indigenen einzureichen – ein mühsames Gerichtsverfahren, das Jahre dauern wird, bis der Schutz erreicht ist. Und doch konnten die Hortalizeras aufgrund des landesweiten Aufstandes einen Monat nach dieser Razzia den Verkauf auf der Straße wieder aufnehmen, ohne Angst vor einem Eingreifen der Polizei haben zu müssen. Die weit verbreitete Anti-Polizeistimmung, die lautstarken Proteste und die öffentliche Sichtbarkeit verhinderten, dass die Stadt die Hortalizeras aus Angst vor noch größeren Zusammenstößen auf den Straßen vertrieben hat.
Tomaterrenos in den städtischen Randgebieten Chiles
Brachliegendes Land gehört den Nachbarschaften und nicht der Stadtverwaltung oder Großgrundbesitzer:innen. Inmitten einer anhaltenden Immobilienkrise, haben die Poblaciones2 gegen die Interessen der städtischen Beamten und Grundstücksspekulanten ihre lokale Umgebung für ihren eigenen Gebrauch zurückerobert. Bis Februar 2020 entstanden 48 Landbesetzungen (tomaterrenos) 3 Temuco herum, wo 1500 Menschen begonnen hatten, Land zu besetzen, Häuser zu bauen und mit der nationalen Regierung über neue Sozialwohnungen zu verhandeln. Die Tomaterrenos zählten auf die Unterstützung der Nachbar:innen, die den Besetzenden Wasser und Essen brachten, ihnen ihre Toiletten zur Verfügung stellten und beim Bau von Gemeinschaftsküchen und -badezimmern im Toma halfen. Als Reaktion auf einen Räumungsversuch, der sich gegen eine Toma richtete, brachen in ganz Temuco in der Nähe der anderen Tomas Proteste aus, bei denen die Nachbar:innen Barrikaden errichteten und Autobahnen sperrten.
Der Aufstand schuf die Voraussetzungen dafür, dass die Gemeinschaften ihre unmittelbaren gemeinsamen Probleme lösen konnten, anstatt darauf zu warten, dass die Beamt:innen ihre Bedürfnisse erfüllen. Was städtische Beamt:innen als eine Krise im Wohnungswesen interpretieren, wurde von den Bewohner:innen als eine Krise ihrer Entscheidungsgewalt über ihren Wohnort und ihrer Fähigkeit, ihre Lebensumwelt zu gestalten, umformuliert. Im Februar 2020 besuchten wir mehrere Tomas, darunter auch das Toma, das die Polizei versucht hatte zu räumen. Es war ein Samstag, ein Bautag. Wir sprachen mit Javi und ihrem Partner Carlo, die mit ihren drei Kindern aus ihrem Familienhaus in der Nähe in das Toma gezogen waren. Carlo erklärte:
»Als die Proteste im Oktober begannen, erkannten wir, dass wir die Möglichkeit hatten, unsere Nachbarschaft zu erweitern, indem wir die Kontrolle über diesen lange verlassenen Landstrich übernahmen, ihn säuberten und die Wohnungen bauten, die wir verzweifelt brauchten. Wir wollen nicht, dass die Regierung uns Häuser in einer anderen, weit entfernten Nachbarschaft baut.«
Carlo sagte: »Wir wollen die Macht haben, zu entscheiden, was mit dem Land in der Nachbarschaft passiert, in der wir aufgewachsen sind, und wir wollen in der Nähe unserer Familien leben.« Laut Javi ist die einzige Sorge des Bürgermeisters bei den »öffentlichen Sanierungen«, ob die Stadt modern aussieht oder nicht. Folglich kümmert sich die Regierung nicht um die tatsächliche Sanitärkrise in den poblaciónes, sondern sorgt nur dafür, dass sie weiterhin unsichtbar bleibt. In Erwartung zukünftiger Zwangsräumungen vertrauten die Bewohner:innen der Toma darauf, dass ihnen Frontliner und Studentengruppen helfen würden, die repressiven Aktionen der Polizei zu blockieren und sich dagegen zu wehren.
Widerstand der Indigenen
Neue Solidarität entstanden oder verfestigten sich über die Kluft zwischen den ländlichen Mapuche und den städtischen Santiaguionos, und neue städtische Revolten brachen als Antwort auf die Polizeibrutalität gegen indigene Gemeinschaften aus. Zu den Jahrestagen der Polizeimorde an Mapuche-Jugendlichen gab es einige der militantesten Proteste auf der Plaza. Am 3. Januar 2020 jährte sich zum 12. Mal der Todestag von Matias Catrileo; die Polizei tötete ihn während einer Landraubaktion im ländlichen Mapuche-Territorium. An diesem Tag verjagten die Demonstrierenden nach einer Mapuche-Prozession zur Plaza dignidad die Polizei, die das angrenzende Carabinero-Denkmal und die Kirche verteidigte. Hunderte plünderten die Kirche und steckten sie in Brand. Währenddessen ließen tragbare Lautsprecher Punkmusik ertönen und ein überfüllter Circle Pit verschlang das verwüstete Denkmal.
Zum vielleicht ersten Mal in der chilenischen Geschichte dominierten indigene Symbole die Bilder der Proteste in der Innenstadt von Santiago. Seit den 1990er Jahren begannen die Mapuche-Gemeinschaften direkte Aktionen gegen die Großgrundbesitzenden und die Rohstoffindustrie, die auf das Land ihrer Gemeinde abzielten. In den letzten 30 Jahren hat die chilenische Regierung die Militarisierung der Polizei in den Mapuche-Territorien verstärkt und die Holzplantagen auf gestohlenem indigenem Land befestigt. Während der gesamten chilenischen Revolte fuhren indigene Demonstrierende fort, ländliche Autobahnen zu verbarrikadieren und forstwirtschaftliche Geräte zu sabotieren. Die visuelle Wirkung der Mapuche-Flaggen, die den chilenischen Flaggen überlegen waren, widerlegte die Behauptung, dass es bei den Protesten um die individuelle wirtschaftliche Prekarität der Protestierenden oder um die chilenische Verfassung ging.
Das Paradigma der sozialen Proteste und die Pandemie
Innerhalb des sozialen Protestparadigmas scheint es immer so, dass die Spannung zwischen »friedlichen« und »militanten« Demonstrierenden gelöst werden muss. Diese Spannung hat sich jedoch in den Erfahrungen, die die Menschen 2019 und 2020 auf den Straßen Chiles gemacht haben, nicht verwirklicht. Vielmehr projizierten Zuschauende von außen diese Spannung auf die Straßen als eine Strategie, um den Aufstand in eine normative, lesbare »soziale Bewegung« für Strukturreformen zu kanalisieren. Da es ihnen nicht gelang, die Straßenmobilisierungen zu gliedern, förderten sie die Erzählung, dass die chilenische Revolte auf die andauernde Straßenmobilisierung reduziert werden könnte, anstatt die heterogenen Elemente der neuen Revolutionsgemeinschaft anzuerkennen, die das Territorium umkämpft.
Die Ankunft der COVID-19-Pandemie in Chile schuf ein Terrain, auf dem es möglich war, die Erzählung zu konstruieren, dass die Straßenmobilisierungen darauf abzielten, Forderungen zu stellen, wie die öffentlichen Institutionen der Pandemie und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise begegnen sollten. Zunächst wandte die Regierung die Quarantänemaßnahmen schrittweise an. Diese Maßnahmen zerschlugen die Bewegungen selbst nicht. Vielmehr versuchten die institutionelle Linke, die sozialen Organisationen und die Gewerkschaften Aktionen durchzuführen, um von der Regierung eine »vollständige und würdige Quarantäne« zu fordern, ähnlich wie die »5 Forderungen« in den USA. Die Angestellten der Einkaufszentren inszenierten Streiks und streikten, bis die Stadt die Einkaufszentren schloss. Als sich der COVID-Ausbruch außerhalb von Santiago auszubreiten begann, blockierten die Bewohner:innen der ländlichen Städte und Inseln die Lastwagen und Fähren, die die Arbeiter:innen der Lachsindustrie transportierten, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese Quarantänezonen einführt. Am 15. März 2020 rief die Regierung den Ausnahmezustand aus und kündigte Quarantänemaßnahmen und eine landesweite militärische Ausgangssperre an. Da die Menschen nicht mehr zur Arbeit gehen konnten, forderten die Demonstrierenden wirtschaftliche Hilfe von der Regierung. Auf die COVID-Pandemie mit dem Paradigma des sozialen Protests zu reagieren, indem man Forderungen stellte, anstatt die Bedürfnisse direkt zu befriedigen, machte die öffentlichen Einrichtungen und die Beamt:innen der Stadt wieder zu den Protagonisten der städtischen Governance.
Ob aus Furcht vor COVID-19 oder vor der neuen polizeilichen Kontrolle öffentlicher Versammlungen zur Durchsetzung der Quarantäne, eine kritische Masse hatte die neue Gemeinschaft der Revolte verloren und stattdessen von den öffentlichen Institutionen und Verantwortlichen eine neue Politik gefordert, die nicht mehr als die Fortsetzung der bestehenden Formen struktureller Gewalt vorsah. Ohne die Bedrohung durch die Revolte verschärften die öffentlichen Institutionen ihren Griff nach den Gebieten, die sich aufgelehnt hatten.
In Temuco waren die Hortalizeras nicht in der Lage, Genehmigungen für den Verkauf auf der Straße zu erhalten; sie konnten nicht einmal die Stadt betreten, da die Quarantänekontrollen vom Militär verstärkt wurden. Als die Quarantäne endete, kehrten sie in die leeren Straßen zurück, um ihre Waren zu verkaufen – aber ohne den Aufruhr der Revolte nahm die Polizei ihre Räumungsversuche wieder auf. Die Tomaterrenos erlitten ein ähnliches Schicksal: Während gerichtliche Verfügungen weitere Räumungsversuche blockierten, verhinderte die Stadt, dass die Tomas an die Stadtwerke angeschlossen wurden. Während Anwält:innen und NGOs bei der Stadtverwaltung Lobbyarbeit für Ressourcen betrieben, erzwang die Polizei eine Quarantäne, die die Nachbar:innen der Tomas daran hinderte, Nachschub zu bringen und die Besetzungen zu unterstützen. Trotz ihrer Erfolge bei der Aufrechterhaltung der Besetzungen begannen die Menschen während der Pandemie die Tomas zu verlassen, weil sie nicht die Mittel und die Unterstützung hatten, sie weiterzuführen. Im August hatten die Betroffenen der Tomas wieder angefangen, entweder bei ihrer Familie in engen Wohnungen zu wohnen oder auf den Straßen Temucos zu schlafen.
Trotz der Versammlungsbeschränkungen blieb die autonom und informell organisierte primera línea der legitimste politische Akteur im ganzen Land. Die Demonstrierenden der primera línea gingen von wöchentlichen Unruhen auf der Straße zu autonomen Bemühungen im Gesundheitswesen über, um diejenigen zu unterstützen, die das Risiko einer Ansteckung auf sich nehmen mussten, um arbeiten zu gehen. Der Staat hat es schwer gehabt, die autonome Kraft der primera línea wieder in die Logik und Mechanik der politischen Macht zu integrieren.
Nachdem die Lockdowns es der Bewegung unmöglich machten, das Lebensumfeld zu verändern, versuchte der Staat, die autonome, rebellische Kraft innerhalb der primera línea anzugehen. Auf der einen Seite hat die staatliche Logik versucht, die primera línea in den Wahlkampf der Apruebo zu kooptieren, die Seite, die für eine neue Verfassung eintritt. Gustavo Gatica – den die Polizei mit Anti-Riot-Projektilen blind machte, ein außergewöhnlicher und in Chile weithin bekannter Fall – war kürzlich in einer Werbekampagne zu sehen, die der Propaganda zum Anfachen der Flammen während der Revolte sehr ähnlich sieht. Nun sollen die dramatischen, intimen Videos – mit Schwarzfahren (ein Verbrechen), Graffiti von der Straße und Matapacos (was übersetzt »Polizistenmörder« bedeutet) – dich zur Wahlurne bringen. Vor COVID-19 haben nur wenige daran geglaubt, dass sich ihr Leben durch den Strich mit dem Stift auf dem Stimmzettel ändern könnte. Doch die Macht, die Kräfte herauszufordern, die versuchen, die Revolte zu kanalisieren, um eine verfassungsgebende Versammlung zu fordern, verschwand, als die Menschenmengen die Straßen verließen. Erst danach konnte die primera línea eher zu einem Symbol als zu einer Erfahrung werden.
Das andere Ende der Vorgehensweise des Staates im Umgang mit der primera línea ist selbstverständlich die Repression. Doch selbst darin müssen sie die Macht und Popularität der primera línea anerkennen. Im Juli, am vielleicht tiefsten Punkt der Mobilisierung seit Beginn von COVID-19, wurden zwei langjährige Anarchist:innen – Monica Caballero und Francisco Solar – verhaftet, weil sie Bomben auf einer Polizeistation, im schicken Gebäude einer Investmentgesellschaft, und in den Büros eines ehemaligen Regierungsministers gelegt hatten. Während der Staatsanwalt in dem formellen Verfahren die unpolitische Natur des Falles betonte und darauf hinwies, dass die beiden wegen kriminellen Verhaltens und nicht wegen politischer Ideen verhaftet wurden, füllten die Medien den Rest der Erzählung aus, die die Staatsanwält:innen vor Gericht nicht sagen konnten. Ein Artikel vom 1. August in La Tercera – in ganz Santiago als die Zeitung bekannt, die der Staatsanwaltschaft und der Polizei am nächsten ist – behauptet:
»Für die Polizei ist Francisco Solar der aktivere der beiden. Er wird ständig zu anarchistischen Veranstaltungen eingeladen und nimmt an der Coordinadora 18 de Octubre (der Koordinierungsstelle für die Freiheit der Gefangenen des Aufstandes vom 18. Oktober) teil, obwohl sie seine politische Affinität weit entfernt von der der »primera línea« kategorisieren. Obwohl er einer der Verantwortlichen für die Zusammenstellung von Lebensmittelkartons für die Gefangenen war, die wegen der Angriffe auf die Polizei während der Demonstrationen im Gefängnis saßen, passt der Begriff ›primera línea‹ nicht zu ihm. ›Ein solcher Begriff steht auch im Zusammenhang mit Diskursen und Verhaltensweisen, die auf der Delegation von Aufgaben innerhalb der Demonstrationen basieren, was wir als Bedrohung der Horizontalität sehen, die den Aufstand in Chile charakterisiert hat‹, heißt es in einer der letzten Ausgaben einer anarchistischen Zeitschrift, an der Solar angeblich mitgewirkt hat.«
Kurz gesagt – um die Revolte zu spalten, ist das Sprachrohr der Polizei bereit, der primera línea eine vorläufige Legitimität zu gewähren, um zu argumentieren, dass die Teilnehmenden der primera línea Francisco nicht als legitimen Genossen betrachten sollten, weil er angeblich an einer Zeitschrift beteiligt ist, die die Revolte horizontal halten will. Der Zynismus dieses Manövers ist erschütternd.
Es ist wahr: nicht jede:r Aufständische der primera línea war Anarchist:in. Viele identifizierten sich als Mapuche, Roto (Slang für Lumpenproletariat), Kinder aus dem staatlichen Waisenhaussystem, Kriminelle, Feminist:innen, Migrant:innen, Otakus, sogar Sozialdemokrat:innen. Aber die Anarchist:innen nahmen an allen großen Schlachten auf der Plaza de la Dignidad auf sinnvolle Weise an ihrer Seite teil: das Plünder- und Brandwochenende um den 18. Oktober herum, die Zusammenstöße in der Innenstadt während der Woche des Ausnahmezustandes, der Generalstreik am 12. November, das Abfackeln der Kirche der Polizei, der Jahrestag des Todes von Matías Catrileo, Weihnachten und Silvester, ganz zu schweigen von den Unruhen vor dem prestigeträchtigen Musikfestival von Viña Del Mar an der Küste.
Es ist absurd, die primera línea und die Anarchist:innen als getrennte Subjekte zu behandeln. Auch hier gibt es keine unabhängige oder gar offizielle Umfrage, die die Präsenz und Beliebtheit anarchistischer Ideen unter denjenigen, die von Oktober bis März gegen die Polizei gekämpft haben, wissenschaftlich bestätigen kann. Aber der Versuch, zwei bekannte anarchistische ehemalige politische Gefangene von der primera línea zu trennen, ist Beweis genug dafür, wie sehr die Staatsanwaltschaft und die Medien die Autonomie, die direkte Aktion und die informelle Zusammenarbeit – also die Anarchie – der primera línea fürchten.
Hungerunruhen und Gemeinschaftsküchen (Ollas Comunes)
Der Staat hat in der Tat Grund, die primera línea zu fürchten. Die gegenseitige Befruchtung zwischen der neuen Militanz in den Straßen und den verschiedenen Kämpfen, die sich mit dem Leben und der Existenzsicherung befassen, zeigt, dass es mehrere Wege gibt, die Kontrolle über das städtische Gebiet außerhalb der Proteste zu erlangen. In den Monaten des Lockdowns konzentrierten sich diejenigen, die über die leeren Straßen bestürzt waren und kein Interesse an Zoom-Meetings über die verfassungsgebende Versammlung hatten, auf autonome Hilfsaktionen. Nach Monaten ohne nennenswerte Proteste oder öffentliche Aktivitäten entstanden in ganz Santiago spontane Hungerproteste und ollas communes (Gemeinschaftsküchen) als Reaktion auf die Nahrungsmittelknappheit und die Wirtschaftskrise durch COVID-19.
Die Polizei wandte die gleiche Zerstreuungstaktik, die sie während des Aufstands angewandt hatte, sowohl gegen die Hungerproteste als auch gegen die Gemeinschaftsküchen an. Die Gewalt der Polizei gegen die Hilfsbemühungen der Gemeinden löste in der Öffentlichkeit Empörung aus, insbesondere ein Video, das einen Guanaco (gepanzerten Wasserwerfer) zeigt, der über einen mit Essen gedeckten Olla Comun-Tisch fährt. Als Reaktion darauf führten die Carabineros ein Genehmigungssystem für ollas comunes ein. Trotzdem weigerten sich die meisten ollas comunes, Genehmigungen einzuholen und verteilten weiterhin Lebensmittel ohne Regierungsgenehmigung.
https://twitter.com/rvfradiopopular/status/1197589526190985217
Indem sie sich der Überwachung und der sozialen Kontrolle entziehen, können autonome Hilfsinitiativen die Grenzen aufgegebener Gebiete und Bevölkerungen anfechten und ungleiche, scheinbar unvereinbare Sozialblöcke zusammenführen. Auf diese Weise können sie seit langem bestehende Trennungen zwischen Privilegierten und Marginalisierten, zwischen formell und informell, zwischen Bürger:innen und Kriminellen, zwischen Frontlinern und ans Haus gebundenen Menschen, und zwischen Netzwerk und Organisation untergraben.
https://twitter.com/ComunOlla/status/1312754344689913856
Im Mai wurde die asamblea libertaria (eine libertär-anarchistische Nachbarschaftsversammlung) in Penalolen eingeladen, bei einer olla comun zu helfen, die in einer Grundschule in einer nahegelegenen Nachbarschaft abgehalten wurde. Drei Leute von der Versammlung kamen mit Vorräten in die Schule, um 300 Sopaipillas herzustellen. Sie wurden von drei verschiedenen Gruppen begrüßt, die Essen zubereiteten: Leute von der Coordinadora Violeta Parra (dem Koordinierungskomitee von Violeta Parra), eine Nachbarschaftsgruppe, die sich gebildet hatte, um ihre Straße nach der Folksängerin umzubenennen, die auch täglich Milch an die Kinder verteilt; eine andere katholische Gruppe, die wöchentlich 300 Sandwiches macht; und eine Gruppe von Müttern der Schule mit Kisten zum Mitnehmen und Schlüsseln für das Gebäude. Während sie Sopaipillas braten und Mittagessen einpacken, tratschten und erklärten die Teilnehmenden verschiedene Projekte in der Nachbarschaft. Während sich jede olla comun auf ihre unmittelbare Nachbarschaft konzentriert, haben sie die Voraussetzungen geschaffen, um sich über die Nachbarschaft hinweg zu koordinieren. Die Leute von der asamblea libertaria erklärten, dass sie sich wöchentlich im Liceo treffen, einem anarchistischen Sozialzentrum mit einer Druckerei, einer öffentlichen Bibibliothek und einer Bäckerei in Industriegröße. Am Ende des olla comun fragte ein Mitglied der coordinadora, ob sie die Bäckerei nutzen könnten, um Brot für weitere ollas comunes zu backen. In den folgenden Monaten benutzten die Genoss:innen das Liceo, um Brot für fünf verschiedene ollas comunes in den umliegenden Vierteln zu backen. Während der Koordination trafen sie Straßenverkäufer:innen, die ihre unverkauften Produkte an die ollas comunes spendeten, und Nachbar:innen mit Trucks, die Vorräte transportierten.
Der Konflikt zwischen den ollas comunes und den staatlichen Institutionen legt nahe, dass es für die Regierungsinstitutionen besser ist, wenn die Menschen auf die Krise reagieren, indem sie strukturelle Veränderungen fordern und die Ineffizienz der Regierung anprangern, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Die Institutionen können sogar autonome Hilfsbemühungen fördern, da sie sich zunehmend auf Gemeinschaftsinitiativen stützen müssen um die aufgegebenen Zonen zu unterstützen, die durch die ungleiche Verteilung der Ressourcen entstanden sind. Dennoch sind sie durch autonome Hilfsinitiativen eingeschüchtert, da sie die Umgehung des Staates normalisieren und Raum für Verschwörungen bieten. Damit die autonomen Initiativen nicht zu einer Regierungskrise führen, setzen die staatlichen Institutionen außergewöhnliche Formen der Überwachung und sozialen Kontrolle durch, um dem Umfang, dem Potenzial und der Funktion der autonomen Hilfe und der Gemeinschaftsaktionen Grenzen zu setzen.
Die Bewegung für Würde versus die Bewegung für eine neue Verfassung
Obwohl der erste Jahrestag der chilenischen Revolte schnell näher rückt, sind wir unsicher, was die Zukunft in Santiago bringt. Wir haben gesehen, wie sich der Diskurs um diese Bewegung von einer Bewegung für Dignidad (Würde) zu einer Bewegung gegen die Verfassung, die von Pinochets Diktatur geerbt wurde, verschoben hat. Am 25. Oktober, eine Woche nach dem Jahrestag der chilenischen Revolte, werden die Menschen in Chile in einem landesweiten Referendum abstimmen, um zu entscheiden, ob eine Konvention abgehalten werden soll, um die von Pinochet geerbte Verfassung neu zu schreiben. Die institutionelle Linke schiebt schnell die Schuld für die Übel der Gesellschaft auf die aktuelle Verfassung – es ist ein Weg, die Aufmerksamkeit davon abzulenken, wie die institutionellen Vereinbarungen zwischen der Diktatur und ihrer Opposition diese Situation geschaffen haben.
Die letzte Volksabstimmung fand vor 30 Jahren statt, als die Chilen:innen beschlossen, Pinochet zu stürzen. Obwohl die Linken dieses Referendum als das Mittel huldigen, mit dem Pinochet zum Rücktritt gezwungen wurde, waren die Verhandlungen, die dem Referendum vorausgingen, in Wirklichkeit nur möglich, weil die weit verbreiteten antidiktatorischen Unruhen während der 1980er-Jahre das Pinochet-Regime destabilisierten. Die aufkommende demokratische Elite schuf die Widersprüche, denen wir heute gegenüberstehen, als sie die Tausende, die tapfer gegen das Militär und die Polizei auf den Straßen kämpften, verdrängte, um die designierten Anführer:innen der Opposition gegen Pinochet zu werden.
Infolgedessen ist unser gegenwärtiger Konflikt der Kern der neuen Gemeinschaft der Revolte sowohl gegen den Staat als auch gegen seine institutionelle Opposition. Dieser Kampf wird bestimmen, ob es bei der chilenischen Revolte darum geht, ein Leben in Würde zu leben oder die institutionellen Arrangements aufrechtzuerhalten, die uns von unseren Erfahrungen, unserer Geschichte und einander entfremden. Trotz der Art und Weise, in der die Einstellung der Proteste die Gemeinschaft der Revolte unsichtbar gemacht hat, sehen wir ihre Präsenz überall. Die heftigsten Unruhen während der Quarantäne haben wir an den Gedenktagen für die Opfer der Militärdiktatur erlebt: am 29. März, dem Tag der kämpferischen Jugend, und am 11. September, dem Jahrestag des Staatsstreichs. An diesen Tagen geht es in den Straßen nicht darum, Forderungen zu stellen, sondern mit den Nachbar:innen anwesend zu sein, um die Toten zu ehren und die Institutionen zu konfrontieren, die für ihren Tod verantwortlich sind. Die Bewegungen auf den Straßen spielen eine größere Rolle als nur »der Schutz von Demos« oder die Ausübung von Druck auf jeden öffentlichen Funktionär, der durch die Drehtüren der Staatsführung geht. Sie dienen dazu, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass andere Ideen sich etablieren, dass andere Möglichkeiten Fuß fassen können.
Seitdem die Quarantäne Santiagos im August endete, haben wir gesehen, wie das Leben in die Straßen der Stadt zurückkehrt und die Frontliner auf die Plaza Dignidad zurückkehren. Es wurden keine Demos geplant, keine Demonstrationen angekündigt. Stattdessen begannen sich die Menschen wie bisher jeden Freitag auf der Plaza zu versammeln. Zunächst verhinderten eine verstärkte Polizeipräsenz und brandneue Anti-Riot-Ausrüstung, dass die etwa hundert Menschen die Plaza einnahmen. Vielmehr waren die Freitagsproteste eher Katz-und-Maus-Spiele zwischen den Demonstrierenden und der Polizei, die über die Plaza und die angrenzenden Viertel und Parks zirkulieren. Dennoch wurde am Freitag, dem 2. Oktober, ein Polizeibeamter auf Video aufgenommen, wie er ein 16-jähriges Kind von der Pionono-Brücke in den berüchtigten, verseuchten Rio Mapocho stieß. Tränengas und Wasserwerfer verhinderten, dass das Sanitätsteam das verletzte Kind, das mit dem Gesicht nach unten im Fluss lag, erreichte. Am nächsten Tag schwoll der Platz mit empörten Menschenmassen an und die Menschen schwenkten Fahnen auf der ikonischen Statue in der Mitte der Plaza Dignidad.
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»In den Monaten der Quarantäne hatte die Stadt die Graffiti von den Monumenten entfernt, die Gehwege repariert und neue Ampeln und Kameras installiert. Am Ende entstand so eine frische Leinwand für Tags, Zement zum Schleudern auf die Polizei und Material für die Barrikaden. Ich habe noch nie so viele Menschen auf der Plaza Dignidad gesehen seit der Pandemie. Die Straßenverkäufer:innen waren wieder da und verkauften Fahnen, Masken, Bier und Sopiapillas. Ich glaube nicht, dass die Polizei auf die große Menschenmenge vorbereitet war. Die primera línea konnte Teile der Barrikaden rund um das Denkmal der Carabineros niederreißen und Steine auf die nahe Polizeilinie werfen. Mehrere Kapellen führten Prozessionen an, die im Zickzack durch die Menschenmengen und fallende Straßenlaternen zogen. Aber der wohl besonderste Teil dieses Tages war das Zusammentreffen mit all den Freund:innen und Nachbar:innen, die ich seit Beginn der Pandemie nicht mehr gesehen habe. Schließlich zerstreute eine Mauer aus Polizei-Guanacos [Wasserwerfer-LKWs] und Zorillas [Tränengas-LKWs] die Menschenmassen.«
»Auf dem Weg zurück in unsere Nachbarschaft lief ich einigen Nachbar:innen über den Weg und wir hingen am Treffpunkt der Rescatista [Straßenmediziner:innen] herum, während die Rescatistas vom Protest zurückkamen. Sie hatten ein komplettes Straßenrettungssystem koordiniert, wie sie es schon vor der Pandemie getan hatten. Sie gingen als Crews in die vordersten Reihen mit Körperpanzern, Schilden und Funkgeräten, um sich mit dem Dispatcher, den Krankenpfleger:innen und Ärzt:innen am Treffpunkt zu koordinieren. Als wir herausfanden, dass eine Rescatista ihren Geburtstag feierte, haben wir mit ihnen auf der Straße getrunken, bis ein petzender Nachbar sich aufgrund des Lärms bei den Behörden beschwerte.«
-Cristian, Augenzeuge
Während die Leute den Platz zurückeroberten, hielten Nachbar:innen kleine Veranstaltungen im Freien ab, um den ersten Samstag nach der Quarantäne zu nutzen. Eine Gruppe von Nachbar:innen in Chuchunco veranstaltete eine Party im Freien, um ein neues Wandbild zu feiern, das sie auf ihr Wohnhaus gemalt hatten. Lokale Punk-Bands, Folk-Sänger:innen und Rapper:innen traten auf einer Bühne vor dem Wandbild auf, beleuchtet von einem Projektor, der Aufstands-Filmmaterial aus dem letzten Jahr abspielte. Während die Familien der Musik lauschten, bemerkten wir eine kleine Barrikade, die auf der Hauptstraße den Block hinauf Feuer fing. Dreißig Minuten später begannen encapuchados (maskierte Demonstrierende) alte Reifen auf die Straße zu rollen und zündeten Barrikaden auf jeder Seite der Kreuzung an. Familien begannen aus ihren Häusern zu kommen und sich neben die Barrikaden zu stellen. Im Laufe der Nacht kam keine Polizei, um die Menge zu vertreiben; Kinder spielten weiter Fangen an der verbarrikadierten Kreuzung.
Während die Bewegungen weltweit überhand nehmen, haben die Regierungen behauptet, dass geheimnisvolle, internationale Netzwerke hinter ihnen stehen. Als Antwort auf die Proteste in Kolumbien hat die Regierung bereits behauptet, dass ein »internationaler anarchistischer Nexus« die Aufstände sowohl in Kolumbien als auch in Chile dazu veranlasst hat, ihre Anti-Polizei-Ideologie zu schüren (angeblich mit dem Effekt, dass »alle Polizist:innen Bastarde sind«). Wie das Ex-Arbeiterkollektiv bemerkte, ist das Sprachbild »Agitator:innen von außen« ein uralter Diskurs, der dazu dient, Bewegungen zu delegitimieren. Angesichts der massiven globalen Unzufriedenheit scheint es, dass den Kritiker:innen bald die Außenstehenden ausgehen werden, die für die Agitation verantwortlich gemacht werden können. Dennoch sind die institutionelle Linke und die reformistischen sozialen Organisationen mindestens genauso erfolgreich wie die Behörden, wenn es darum geht, die Erzählung von den »Agitator:innen von außen« zu benutzen, um die Unruhe zu delegitimieren, von der sie zu profitieren versuchen.
Die Erzählung der »Agitator:innen von außen« hat sich hier in Chile nicht durchsetzen können, weil die Frontliner Teil einer breiten neuen Gemeinschaft der Revolte sind. Sie kann nur diejenigen ansprechen, die weit von den Aufständen entfernt waren und diejenigen, die versuchen, Mythen darüber zu verbreiten, wie Bewegungen funktionieren. Sie behaupten, dass wir die Siege der Vergangenheit den sozialen Protesten verdanken – obwohl wir aus eigener Erfahrung wissen, dass die sozialen Proteste immer nach den Nächten der Plünderungen und Brände kommen.
Schlussfolgerung
Die weltweite Welle der Rebellionen von 2019 bis 2020 hat eine Gemeinschaft der Praxis offenbart. Diese Bricolage der Aufstände stellt einen globalen Aufstand dar, der aus den bestehenden politischen Modellen ausbricht. Die Situation in Santiago unterscheidet sich in mancher Hinsicht von anderen Kontexten – zum Beispiel gibt es für die rassistische Verteilung von Ressourcen und staatliche Gewalt in den USA kein unmittelbare Entsprechung in Chile. Nichtsdestotrotz sind die staatliche Gewalt und die generationenübergreifenden Armutszyklen, die in der Peripherie von Santiago endemisch sind, bekannt.
Das vergangene Jahr in Chile hat bestätigt, dass ein Kampf um Territorien unregierbar wird, wenn die Teilnehmenden nicht mehr davon ausgehen, dass die liberale Demokratie die Krise lösen kann. Keine verfassungsgebende Versammlung oder halbgare Reform könnte uns vor dem ökologischen Kollaps retten, der sich entfaltet, noch könnte uns ein Beamter ein würdiges Leben gewähren. Die Teilnahme an dieser Welle der Revolte bringt das Verständnis hervor, dass es nirgendwo auf der Welt in der Praxis ein Modell des Regierens gibt, das eine Lösung für die strukturelle Gewalt und Entfremdung bieten könnte, mit der wir konfrontiert sind. Am Anfang gingen viele Menschen auf die Straße, aus Wut gegen Polizeigewalt oder aus Gefühlen der Ohnmacht und Verzweiflung. Aber wir haben uns entschieden, zurückzukehren, weil wir entdecken, dass ein menschenwürdiges Leben zu leben und eine menschenwürdige Zukunft zu schaffen, eine Zusammenarbeit erfordert, um den normalen Zustand der Dinge aufzuheben. In diesen gemeinsamen Momenten experimentieren wir mit neuen Wegen, um mit uns selbst und den Gebieten, die wir bewohnen, in Beziehung zu treten.
Einige Namen und Orte sind geändert worden, um die Identität der Teilnehmenden zu schützen.
Übersetzung von SchwarzerPfeil, leicht editiert
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Mit dem Paradigma des sozialen Protests beziehen wir uns auf die Organisation von Straßendemonstrationen, die als die Repräsentation »der Bevölkerung« interpretiert werden, mit dem Verständnis, dass sie Forderungen an die Institutionen der Macht stellen, bis hin zur Auflösung dieser Institutionen selbst. Wenn es zu militanten Aktionen kommt, werden sie als Eskalation des Drucks auf Regierungsbeamt:innen und öffentliche Institutionen gerechtfertigt, um die artikulierten sozialen Forderungen zu erfüllen. ↩
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Las Poblaciones sind die Viertel, die die Peripherie der meisten Städte in Chile umgeben. Seit den 1950er und 1960er Jahren besetzten städtische Migrant:innen Land und arbeiteten zusammen, um Nachbarschaften zu bauen und ihre Häuser vor der Vertreibung zu verteidigen. Die Bewohner:innen schöpfen aus einer langen Geschichte der revolutionären Organisierung und der anschließenden Repression während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) in ihren aktuellen Nachbarschaftsversammlungen, sozialen Projekten in den Vierteln und politischen Protesten. Während diese Viertel nicht mehr als die rote Zone der politischen Dissident:innen unterdrückt werden, werden sie derzeit als die rote Zone der kriminellen Aktivitäten polizeilich überwacht. ↩
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Tomaterrenos sind direkte Aktionen, bei denen Familien ohne festen Wohnsitz, die entweder obdachlos sind oder bei Verwandten leben, kollektiv leerstehende Grundstücke besetzen, um ein Viertel zu organisieren und ihre eigenen Wohnungen zu bauen. Wir benutzen den Begriff »tomaterreno«, weil die nächstliegenden Wörter im Englischen – squatting, shantytown, und land occupation – alle eine etwas andere Bedeutung haben (das gilt auch im Deutschen). Anders als chilenische Squats sind tomaterrenos nicht an eine bestimmte Subkultur oder politische Tendenz gebunden. Die Teilnehmenden kommen aus verschiedenen politischen Richtungen; es können sogar rechte Teilnehmende sein, die sich an der Seite von Kommunist:innen in direkten Aktionen engagieren! Wir verwenden den Begriff Shantytown nicht, weil dieser Begriff einfach die ad hoc Unterbringung der städtischen Armen bezeichnet. Menschen beteiligen sich nicht nur aus Armut oder Wohnungsnot an tomaterrenos. Vielmehr entscheiden sie sich für eine kollektive, direkte Aktion, um gemeinsam freie Grundstücke zu beschlagnahmen: sie planen die Aktion, sie planen das Land und sie helfen sich gegenseitig beim Hausbau. Wir verwenden tomaterreno anstelle von »Landbesetzung«, weil der Begriff »Besetzung« für die anglophonen Leser:innen an die Besetzungsbewegung 2011 und verwandte Bewegungen erinnert, die den öffentlichen Raum mit der Vision besetzen, einen Mikrokosmos einer Alternative zur bestehenden sozialen Welt aufzubauen. Die Koordination und Durchführung von tomaterrenos basiert nicht so sehr auf politischen Idealen als vielmehr auf materiellen und sozialen Bedürfnissen. Die motivierende Kraft ist die Art und Weise, wie die Menschen trotz der Einmischung von Regierungsstellen und öffentlichen Institutionen in ihrer Umgebung leben wollen. ↩