In der folgenden Analyse untersuchen Anarchist:innen aus Brasilien, wie die Pandemie und der steigende rechtsextreme Populismus in einer kolonialen Extraktionswirtschaft zusammenfallen und die Gesellschaft auf einen katastrophalen Zusammenbruch zusteuert. In diesem Kontext können selbstorganisierte Projekte gegenseitiger Hilfe und kollektiver Verteidigung, an denen Lieferfahrer:innen, Fußballfans, indigene Organisator:innen, Hausbesetzer:innen, Bewohner:innen der Favelas und der städtischen Peripherie, Antifaschist:innen und andere Gruppen beteiligt sind, tatsächlich unsere einzige Hoffnung auf Überleben darstellen.
“Geschichte wird nicht von einer Handvoll Aktivisten mit der richtigen Ideologie gemacht, sondern durch die unvorhersehbaren Aktionen zahlloser Proletarier, die lernen, gemeinsam gegen das zu kämpfen, was sie (wenn auch ungenau) als Bedrohung ihrer Zukunft wahrnehmen. Sie kommen in diese Kämpfe mit widersprüchlichen Vorstellungen, und diese werden erst im materiellen Prozess der Aufrechterhaltung solcher Bewegungen und ihres Vorantreibens aufgearbeitet.”
In dystopischer Literatur und in Filmen, in denen ein katastrophales Ereignis den Zusammenbruch der Zivilisation verursacht, sehen wir oft Menschen, die danach in Gruppen leben und planen, “die verlorene Welt wieder aufzubauen”, als ob die Wiederherstellung derselben sozialen Organisation und wirtschaftlichen Struktur, die sie in den Zusammenbruch getrieben hat, die Antwort auf ihr Elend wäre. Für diese Charaktere - und für ihre Anführer mit ihren epischen Reden - war das Problem nicht das normale Funktionieren des Systems, sondern sein Ende. Wir sehen dies in 28 Days Later (2002), Children of Men (2006), Dawn - Planet der Affen (2014) und einigen anderen Filmen, die mit unseren Wünschen und Ängsten über die Möglichkeiten kokettieren, die einer Katastrophe folgen würden, die das Potenzial hat, unsere Lebensweise irreparabel zu erschüttern - sei es eine nukleare Apokalypse, ein tödlicher Virus oder menschliche Unfruchtbarkeit.
Das aus dem Französischen stammende Wort “dés-astre” bezeichnet die Loslösung von den Himmelskörpern - eine Störung in unserer Beziehung zum Kosmos, zu unserem Schicksal. Viele Menschen können sich das Ende des Kapitalismus nur als katastrophales Ereignis vorstellen, das uns verzweifelt und orientierungslos zurücklässt, wie in jenen Dystopien: zerstörte Städte, unfruchtbare Böden, extreme Umweltverschmutzung, endlose Kriege, Hunger und natürlich tödliche Krankheiten, die sich ungehindert ausbreiten. Doch für diejenigen von uns, die in der realen Welt die vom Kapitalismus verursachten Katastrophen und Pandemien überleben, ist die Normalität das Problem. Für uns hat die Krise bereits begonnen und die Katastrophe - die wirkliche Katastrophe - besteht darin, dass alles so weitergeht, wie es ist. Ungleichheit, Privatisierung, Umweltverschmutzung, Unterdrückung und Gewalt stellen keinen Bruch mit der Normalität des Systems dar, in dem wir leben; vielmehr sind sie die Bedingungen für seine Fortsetzung.
Der Kapitalismus ist nicht das erste ungleiche und brutale System der Geschichte. Aber er ist das erste, das weltweit Leben gefährdet, damit eine Minderheit in einem global einheitlichen System prosperieren kann. Wir ringen darum, es zu verstehen, weil es die Welt ist, in der wir leben, die Welt, die wir mit den Menschen, die wir lieben, teilen, aus der wir unseren Lebensunterhalt beziehen - wenn auch auf Kosten von viel Leid. In dieser Welt sind die Tragödien, gelinde gesagt, ungleich verteilt: Ein Dutzend Milliardäre bestimmen weiterhin unsere Zukunft, unser Leben und unseren Tod, da sie den Großteil der Ressourcen unseres Planeten kontrollieren und davon profitieren. Der Rest von uns konkurriert um Jobs, die immer prekärer werden, kämpft darum, seine Häuser zu behalten, die rassistische Polizei zu überleben - um nicht in den überfüllten Krankenhäusern, Kühltransportern oder Massengräbern zu enden, die das neue Bühnenbild der Pandemie bilden.
Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Tod des Kapitalismus der Tod von etwas ist, das Leben trägt. Der Kapitalismus ist das, was unser Überleben bedroht, indem er einen künstlichen Wettbewerb in künstlicher Knappheit erzwingt. Selbst Belletristik-Autoren sind zunehmend unfähig, die Zukunft als Fortschritt oder als Versprechen auf “bessere Tage” darzustellen. Es gibt genug Ressourcen, Nahrung und Land für alle Menschen, aber diejenigen, die sie kontrollieren, würden sie lieber zerstören als mit uns zu teilen. Eine soziale Organisation, die Satelliten startet, um Galaxien zu erforschen, aber die irdische Bevölkerung nicht ernähren kann, die fortschrittliche Medizin produziert, aber sie absichtlich für die meisten Menschen unzugänglich macht, ist eine soziale Organisation, die unweigerlich ihren eigenen Zusammenbruch herbeiführen wird. Wir werden nicht aufhören zu wiederholen: Die wahre Katastrophe ist nicht das Ende des Kapitalismus, sondern seine Fortsetzung.
Wissenschaftler:innen und offizielle Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation übernehmen von den Umwelt- und antikapitalistischen Bewegungen die “alarmistische” Rolle, die globalen Krisen zu verkünden, die durch die ungebremste wirtschaftliche Expansion verursacht werden. 2018 erklärte das Intergovernmental Panel for Climate Change (IPCC), dass wir uns einem katastrophalen Temperaturanstieg auf der Erde stetig nähern und maximal zwölf Jahre Zeit haben, diesen Prozess zu stoppen. Anfang 2019 veröffentlichte die Intergovernmental Platform for Biodiversity and Servicer (IPBES) einen Bericht, aus dem hervorgeht, dass in den kommenden Jahrzehnten mindestens eine Million Arten von der Oberfläche unseres Planeten verschwinden werden - darunter ein großer Teil der vertrauten Flora und Fauna, aber auch Insekten und Mikroorganismen, die für die Landwirtschaft, die uns alle ernährt, notwendig sind. Im August 2020, mitten in der Pandemie, veröffentlichten Wissenschaftler:innen aus aller Welt den Bericht “State of the Climate 2019” und warnten, dass dieses Jahrzehnt das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen war. In seinem 2016 erschienenen Buch Big Farms Make Big Flu hatte Rob Wallace bereits auf die konkreten Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Industrie, Agrobusiness und epidemiologischen Ausbrüchen wie dem, in dem wir jetzt leben, hingewiesen.
Inmitten all dieser Tragödien sehen wir, dass linke Regierungen in Amerika und auf der ganzen Welt nicht in der Lage sind, den Aufstieg des Populismus einzudämmen. Sie konnten sich der Korruption nicht entziehen; sie konnten ihre Versprechen, “die Ausgeschlossenen einzubeziehen”, nicht erfüllen, während sie die Privilegien der Reichen und den schwachen Komfort der so genannten “Mittelklasse” schützten - eine Schicht, die sich im Allgemeinen mit den Wünschen und Ideologien der herrschenden Klasse identifiziert. Dies ist keine Frage der moralischen Beurteilung, sondern ein Hinweis darauf, dass Korruption allen Staaten und dem Kapitalismus inhärent ist, da beide dazu dienen, die Spaltung zwischen denen, die kontrollieren, und denen, die gehorchen, denen, die protzen, und denen, die hungern, aufrechtzuerhalten. Linke Regierungen wurden durch Wahlen oder Putsche unter Führung der extremen Rechten vertrieben, die in jedem Land andere Formen annehmen - ob populistisch, faschistisch oder autoritär -, aber die allgemeine Unzufriedenheit und Enttäuschung auf globaler Ebene erfassen.
Die Demokratie schwingt wie ein Pendel hin und her, nimmt die Macht von der Linken, um sie der Rechten zu geben und wieder zurück, ohne dass sich an der politischen und wirtschaftlichen Struktur etwas ändert. Für jeden Lula oder Dilma, dem es nicht gelingt, die Rebellion durch Zugeständnisse und verstärkte Investitionen in repressive Apparate und Gesetze zu befrieden, tauchen neue Bolsonaros und Trumps auf, die bereit sind, den Einsatz zu verdoppeln und sich selbst zu den neuen Anführern zu erklären, die “innerhalb der Ordnung rebellieren” und sich über die Grenzen der Demokratie hinwegsetzen und sie bis an die Grenze des Totalitarismus ausdehnen. In dieser Hinsicht könnten wir sagen, dass diejenigen, die heute nach einer reaktionären “Revolution” rufen, die extreme Rechte sind, während die Linke sich in Versuchen suhlt, die kümmerlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fortschritte zu bewahren, mit denen sie uns vor langer Zeit beschwichtigt hat, während sie regiert, um unser Elend zu verwalten.
Das Ergebnis sehen wir von Brasilien und den Vereinigten Staaten bis nach Russland, Ungarn und Indien: neue populistische Autokraten, die ungestraft ihre eigenen Gesetze untergraben und Regierungen führen, die ihre Bevölkerungen in der tödlichen Tragödie der COVID-19-Pandemie versinken lassen. Das Einzige, was schlimmer ist, als in einer Gesellschaft zu leben, in der kleinbürgerliche Führer alle Macht und Ressourcen monopolisieren, um Entscheidungen über unser Leben und unsere Gesundheit zu treffen, ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der diese Führer ihre geballte Macht nutzen, um uns Krankheit und Tod auszuliefern.
Während wir diesen Text verfassen, sind in Brasilien 240.000 der weltweit 2,5 Millionen Todesopfer zu beklagen [inzwischen, Stand 21.07., sind es 544.180 in Brasilien und 4.105.450 weltweit], und nach offiziellen Angaben gibt es dort über 10 Millionen Infektionsfälle. Die Coronavirus-Krise ist das authentische Porträt einer vorhersehbaren und vermeidbaren globalen Katastrophe.
Die schlimmste Pandemie seit über einem Jahrhundert ist nicht “pädagogisch”, keine Botschaft von Gaia, keine göttliche Strafe. Aber sie ist auch nicht unabhängig von menschlichem Handeln auf der Welt, wie der Meteor im Film Armageddon (1998) oder der Planet auf dem Weg zur Kollision mit der Erde in Melancholia (2011). Es ist das direkte Ergebnis des Vordringens von Kapitalismus, Agrobusiness und Urbanisierung in Biome und Wildnis. Es ist die materielle, politische und subjektive Auswirkung eines Ereignisses, das es noch zu analysieren gilt.
Wir scheinen nun näher an Das Turiner Pferd (2011) von Bela Tarr zu sein. Darin ist das Ende der Welt gleichzeitig seltsam und routinemäßig, monoton in einer auf das Überleben reduzierten Leben - die langsame Annullierung der Zukunft.
“Die Art, wie ich das Ende der Welt sehe, ist sehr einfach, sehr ruhig, ohne jedes Spektakel, ohne Feuerwerk, ohne Apokalypse. Es geht abwärts, bis es schwächer und schwächer wird, und am Ende endet es.”
-Bela Tarr
Es scheint nicht mehr möglich - oder sogar vorzuziehen - das Ende hinauszuschieben, denn es ist bereits da. Die große Frage ist nun, wie man mit einem Ende umgeht, das sich nicht als Revolution, sondern als immerwährende Krise niederschlägt. Wir beginnen, indem wir uns mitten in der Katastrophe auf den Weg zu einem anderen Ende der Welt machen. Nur wenn wir dort beginnen, können wir handeln.
II. Der Kapitalismus ist eine logistische Katastrophe
“Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.
Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird. Es ist im Gegenteil die Sklaverei der Menschen, die meiner Freiheit eine Schranke setzt oder, was dasselbe ist, ihre Bestialität ist eine Verneinung meines Menschentums, weil, um es noch einmal zu sagen, ich nur dann frei sein kann, wenn meine Freiheit, oder, was das gleiche heißen will, wenn meine Menschenwürde, mein Menschenrecht, das darin besteht, daß ich keinem anderen Menschen gehorche und meine Handlungen nur durch meine eigenen Überzeugungen bestimmen lasse, widergespiegelt in dem gleichmäßig freien Bewußtsein aller, mir durch allgemeine Anerkennung bestätigt wird. Meine auf diese Weise durch die Freiheit aller bestätigte persönliche Freiheit erstreckt sich ins Unendliche.
-Mikhail Bakunin, “Der Kampf gegen die Gesellschaft “
Im Mai 2020 verglich Bolsonaro auf die Frage nach der Begrenzung der Wirtschaft und der Umsetzung von Regeln zur sozialen Distanzierung Brasilien mit Schweden und sagte, dass das nordische Land “nicht aufgehört hat” und ein gutes Beispiel für ein Land darstellt, das angesichts der Pandemie seine “Normalität” bewahrt hat. Brasilien hatte zu diesem Zeitpunkt 13.000 Tote durch das Coronavirus zu beklagen, Schweden etwas mehr als dreitausend.
Der Vergleich dieser beiden Länder mag lächerlich erscheinen, wenn man bedenkt, dass die schwedische Bevölkerung 21 Mal kleiner ist als die brasilianische, nämlich kleiner als die 12 Millionen Menschen, die in der Stadt São Paulo leben. Außerdem werden die 10 Millionen Schweden durch staatliche Wohlfahrt und soziale und wirtschaftliche Eingliederung gut unterstützt, wovon die meisten der 210 Millionen Brasilianer nicht einmal träumen können. Wir wollen dem nordischen kapitalistischen Modell, das man vielleicht besser als “die größte Gated Community der Welt” bezeichnen sollte, keine naiven Komplimente machen. Die Existenz dieser globalen “Eigentumswohnungen” in den Schwedens und Norwegens der Welt braucht notwendigerweise die globalen Ränder in Lateinamerika, Afrika und Asien, die als billige Arbeitsreserven, Rohstoffabbauzonen und Müllhalden mit angenehm lockeren Vorschriften dienen. Dies hilft zu erklären, warum Brasilien nicht in der Lage ist, die Pandemie und ihre Auswirkungen zu kontrollieren, obwohl es über das größte öffentliche Gesundheitssystem der Welt verfügt, das seit langem bestehende Ungleichheiten und Formen der Ausgrenzung noch verschärft.
Brasilien ist eine Nation von kontinentalen Ausmaßen mit einer beachtlichen Produktionswirtschaft. Es ist jedoch immer noch durch eine tiefe soziale Ungleichheit und eine willfährige Rolle auf dem Weltmarkt als Produzent und Exporteur von landwirtschaftlichen und primären Produkten wie Getreide, Mineralien und Öl gekennzeichnet. Ganze 14 der 15 wichtigsten Exportgüter sind Primärprodukte. Durch den Reichtum an verschiedenen Biomen, Wasser und Ackerland ist die Nahrungsmittelproduktion auf brasilianischem Boden die drittgrößte der Welt und ernährt 1,5 Milliarden Menschen weltweit. Aber diese Wirtschaft behandelt Wälder, Flüsse, Boden und alles menschliche und tierische Leben als nichts anderes als Einkommensquellen auf dem externen Markt. Sie basiert auf individuellem Eigentum, Konzentration von Reichtum und Land, Abholzung, Umweltverschmutzung, Gewalt, versklavter Arbeit und der Aneignung von indigenem Land - ein Prozess, der sich seit der europäischen Invasion im Jahr 1500 nicht verlangsamt hat, nicht einmal während der Pandemie.
Während Bolsonaro die Brasilianer:innen dazu auffordert, so zu tun, als wären sie Schwed:innen, hat ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung keinen Zugang zu Wasser oder Abwasseraufbereitung oder sogar zu den Dokumenten, die für die Beantragung dieser Dienstleistungen benötigt werden. Für 35 Millionen Brasilianer:innen ist nicht einmal eine normale Abwasserentsorgung möglich, da es keinen Zugang zu sauberem Wasser gibt. Fast 100 Millionen Menschen - 47 % der brasilianischen Bevölkerung - haben keinen Zugang zu einem Abwassersystem. Anders als in Schweden, wo die Regierung 90 % der Löhne subventioniert, um die Menschen zu Hause zu halten, lebten im Jahr 2020 etwa 46 Millionen Brasilianer:innen ohne Dokumente, Bankkonto oder Internetzugang, unsichtbar für die Augen des Staates und ausgeschlossen von der Nothilfe - die etwas mehr als die Hälfte des brasilianischen Mindestlohns ausmacht, aber viermal mehr als das Minimum von Lulas gefeierter Bolsa Familia-Hilfe. Dieser Ausschluss spiegelt sich direkt in den Statistiken über die Auswirkungen von COVID-19 wider, genauso wie er dieselben Menschen in den “normalen” Zeiten trifft, sei es durch Elend oder durch die Gewalt, die damit einhergeht.
Polizeigewalt, Sicherheit und Kontrolle
Das katastrophale Szenario der Covid-19-Pandemie in Brasilien würde sich nicht abspielen ohne den permanenten Ausnahmezustand, den die Sicherheitskräfte verhängen. In Rio de Janeiro zum Beispiel stiegen die Morde durch die Polizei im April, dem ersten Monat der Abriegelung und Quarantäne, trotz geschlossener Geschäfte und der Empfehlung, zu Hause zu bleiben, um 43%. Unter den 177 Menschen, die im April 2020 von der Polizei in Rio de Janeiro getötet wurden, waren der 14-jährige João Pedro, der zu Hause von der Polizei erschossen wurde, und der 18-jährige João Vitor, der von der Polizei getötet wurde, während Gruppen der sozialen Bewegung Kisten mit Lebensmitteln in Cidade de Deus auslieferten. Nachdem der STF (brasilianischer Bundesgerichtshof) am 5. Juni Polizeioperationen während der Pandemie verboten hatte, sank die Zahl der Todesopfer in der gesamten Stadt um 70%. Rafaela Coutinho, die Mutter von João Pedro, fasste die Situation so zusammen: “Ich habe João Pedro vor einem Virus geschützt und er wurde Opfer eines noch schrecklicheren Virus: dem Virus eines mordenden Staates.”
Umweltzerstörung, Beschlagnahmungen von indigenem Land, Polizeimorde, die politische Verfolgung von Pädagog:innen - Krisen kommen nie allein. Außerdem werden sie oft zu Gelegenheiten, um bestimmte Maßnahmen durchzusetzen, die in anderen Zeiten viel mehr Aufmerksamkeit - oder Widerstand - auf sich ziehen würden. Der derzeitige Umweltminister erklärte in einem Video, dass die Pandemie ein günstiger Moment sei, um Gesetze zu verabschieden, die die Umweltzerstörung erleichtern, “während die Medien nur über COVID berichten.” In der Tat haben wir schnelle gesetzliche Maßnahmen zum Abbau von Umweltschutzgesetzen gesehen. Der Stopp der Inspektionen während der Pandemie und der Isolationszeit ermöglichte es Viehzüchtern, Holzhändlern und Bergleuten, weiter in die Wälder des Amazonas und des Pantanals vorzudringen, was zu einem Anstieg der Brände um 28% im Vergleich zum letzten Jahr führte.
Gleichzeitig prangerten indigene und Quilombolas-Bewegungen und -Gruppen Bolsonaros Regierung an, einen “genozidalen Plan zur Räumung des Gebietes” in die Tat umzusetzen, indem sie COVID-19 erlaubten, Gemeinden zu erreichen, die nicht einmal das Minimum an Widerstand leisten können. Sogar STF-Minister Gilmar Mendes benutzte das Wort „Völkermord”, um die Politik dieses Präsidenten zu beschreiben, der im Juli sein Veto gegen Maßnahmen einlegte, die den Zugang zu Trinkwasser, Hygienematerialien, Internetverbindungen und Aufklärungsmaterial über Krankheitsvorsorge in indigenen Sprachen verbessern sollten. Bolsonaro legte auch sein Veto gegen eine Maßnahme ein, die die Verpflichtung des Staates zur medizinischen Versorgung der indigenen Bevölkerung bekräftigte. Bis Ende Juli hatten sich 70.000 Indigene infiziert und mehr als 2.000 waren an COVID-19 in ganz Amerika gestorben. Im 21. Jahrhundert ist dies das neue Gesicht eines kolonialen Projekts, das, wenn es Indigene nicht direkt mit Waffen angreift, wieder einmal Krankheiten und Vernachlässigung einsetzt, um Einzelne zu töten und ganze Gemeinschaften auszulöschen - sei es der chilenische Staat gegen die Mapuche in der Region Araukanien oder der brasilianische Staat gegen die Guarani-Kaiowa in Mato Grosso do Sul.
Zu den staatlichen Überwachungsmaßnahmen gehören inzwischen innovative Methoden wie Telefonüberwachung, Gesichtserkennung und die Kontrolle durch Wärmebildkameras. Noch haben wir keine so intensive Überwachung erlebt wie die komplett abgeriegelten Stadtteile in Madrid, oder Roboter, die Menschen auf der Straße überwachen wie in Tunis, oder individuelle Telefonüberwachung und Gesichtserkennung, die Bürger verfolgen wie in China. Aber wo immer staatliche Kontrolle Fuß fasst, kann sie sich nur noch intensivieren. Isolationsmaßnahmen und polizeiliche Eingriffe zur Unterdrückung von Versammlungen und Zusammenkünften erinnern an die Jahre der Militärdiktatur (1964-1985), als es Ausgangssperren gab und jedes Treffen von mehr als zwei Personen, wie beiläufig auch immer, von der Polizei als potenziell konspirativ aufgelöst wurde. Für diejenigen, die sich an diese Zeit erinnern - oder die den Polizei- und Militärstaat in den Randgebieten der Städte oder auf dem Land immer noch erleben - haben solche Maßnahmen immer die Form einer feindlichen Durchsetzung, auch wenn sie “für die Gesundheit aller” sind. Das klassische Beispiel dafür, warum solche Maßnahmen den Zorn der Menschen erregen können, ist die bekannte “Revolta da Vacina” (Impfstoff-Revolte) von 1904, als die Regierung von Rio de Janeiro - der damaligen Hauptstadt Brasiliens - einen Impfplan zur Pockenbekämpfung mit Gewalt durchsetzte, indem Polizisten in die Häuser der Menschen einbrachen, um sie zu zwingen, den Impfstoff zu nehmen. Gleichzeitig wurden im Rahmen eines gewalttätigen Hygiene-Urbanisierungsprojekts ganze Straßenzüge abgerissen und die Armen in die Außenbezirke gezwungen.
Heute richten sich solche Aufstände nicht unbedingt gegen die Wissenschaft, die Medizin oder die Erhaltung der Gesundheit, sondern gegen den Autoritarismus und die Macht derer, die uns zwingen wollen, ihre Entscheidungen ohne Dialog zu akzeptieren, um so die Selbstorganisation zu unterdrücken. Zum Beispiel hat der Gouverneur von São Paulo, João Dória von der PSDB, 2019 das Gesetz von 2014 wieder in Kraft gesetzt, das Masken bei Demonstrationen verbietet, um schwarze Blöcke zu verhindern. Ein Jahr später ordnete derselbe Gouverneur die Verwendung von Masken im ganzen Bundesstaat für alle Menschen an, die zu irgendeinem Zweck auf die Straße gehen. Diese Ironie veranschaulicht, wie verletzlich und entfremdet wir sind, wenn wir uns auf Politiker und Gesetze verlassen, um zu bestimmen, was das Beste oder Sicherste für uns ist.
Linien der Ausgrenzung
Es ist schwierig, Fernunterricht umzusetzen, wenn die Schüler:innen keinen Computer oder Internetzugang haben oder mit mehreren Familienmitgliedern in Wohnungen mit einem oder zwei Zimmern leben. Die Pandemie hat die enormen Ungleichheiten zwischen Schüler:innen öffentlicher und privater Schulen nur noch verschlimmert. Der Anstieg der häuslichen Gewalt während der Lockdowns hat ein Licht auf Patriarchat und Sexismus in unserer Gesellschaft geworfen. Gefängnisrevolten, die gegen die Verletzung von Menschenrechten und die Nachlässigkeit protestieren, mit der Gefängnisbeamte die Ausbreitung von COVID-19 zulassen, zeigen die Brutalität eines überfüllten und mörderischen Gefängnissystems. Die neuen Gefahren, die das Leben von Menschen auf dem Land, Inidgenen und alten Menschen bedrohen, offenbaren die soziale Ausgrenzung, der diese Gruppen bereits seit Jahrhunderten ausgesetzt sind.
Die Pandemie unterscheidet sich nicht von anderen Katastrophen, die die Armen und Ausgegrenzten unverhältnismäßig stark treffen. Wenn der Winter oder ein Sturm eine Stadt heimsucht und Obdachlose an der Kälte sterben und Häuser, die in gefährdeten Gebieten gebaut wurden, einstürzen, ist es offensichtlich, dass das Problem nicht die Kälte oder der Regen ist, sondern dass die Menschen ohne die grundlegenden Ressourcen dastehen, die sie brauchen, um diesen Situationen zu begegnen. Solange der Kapitalismus fortbesteht, werden die Menschen am unteren Ende der Pyramide bei jeder Krise oder Katastrophe immer am meisten leiden. Wie die Tragödien vor ihr hat auch diese Gesundheitskrise ein Alter, aber auch eine Farbe und eine Adresse: Im April war die Zahl der durch COVID-19 getöteten Schwarzen in Brasilien bereits fünfmal höher als die Zahl der weißen Opfer. Jüngste Studien zeigen, dass in São Paulo vor allem Hausfrauen, Selbstständige und Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzen, Opfer der Pandemie sind, während Arbeitgeber fast sicher vor Ansteckung waren.
Wie einige der Anarchist:innen, die 1884 die Cholera-Epidemie in Italien bekämpften, es ausdrückten: “Die wahre Ursache der Cholera ist die Armut, und die wahre Medizin, um ihre Rückkehr zu verhindern, kann nichts Geringeres als die soziale Revolution sein.” Mit ein paar Anpassungen können wir das Gleiche über unsere Situation im 21. Jahrhundert sagen. Die geopolitischen Ungleichheiten - Brasilien ernährt 20 % der Weltbevölkerung, garantiert aber fast 50 % seiner Bevölkerung keine grundlegenden Ressourcen wie Wasser und Abwasser - beweisen, dass das Problem nicht die Knappheit der Ressourcen ist, sondern die Konzentration von allem Land, Geld, Infrastruktur und Macht in den Händen von immer weniger Menschen. Das Problem des Kapitalismus ist die Verteilung, und die Ursache liegt in der Logik seiner Wirtschaft und Politik selbst.
Wenn die COVID-19-Pandemie uns etwas gezeigt hat, dann, dass der Kapitalismus voller Engpässe ist, die den Zugang zu Ressourcen blockieren. Eine Krise, die die Gesundheit aller Menschen auf allen Kontinenten bedroht und die Ärmsten und Verwundbarsten einem vermeidbaren Tod aussetzt - und indem sie sie gefährdet, ermöglicht sie es dem Virus, sich weiter auszubreiten und auch andere zu bedrohen -, bestätigt, dass dieses Wirtschaftssystem nicht in der Lage ist, alle zu ernähren. Wie Bakunin1 es ausgedrückt haben könnte, hängt meine Gesundheit von der Gesundheit aller anderen ab, überall auf dem Planeten. Anarchist:innen und andere Radikale haben immer die Ansicht vertreten, dass die Freiheit für alle gelten muss, wenn eine:r wirklich frei sein soll. Diese Pandemie bestätigt, dass eine einzelne kranke Person ein Risiko für die Gesundheit aller darstellt, während es einigen an Freiheit mangelt, während einigen der gleiche Zugang zu Ressourcen und die Autonomie fehlt, um zu kooperieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Solange wir diese Ausgrenzungslinien nicht zerstören, werden wir alle gefährdet sein.
III. Das Bild der Zukunft: Nationalistischer Populismus oder soziale Revolution?
“Berufspolitiker, die sehen, dass sie an Boden verlieren, weil der Staat mit dem Kapitalismus ins Wanken gerät, werden zu Berufsbanditen, um in den gleichen Machtpositionen und dem Angriff auf die öffentlichen Kassen weiterzumachen. Es entstehen primitive Streifzüge. Das ist Faschismus.”
-Maria Lacerda de Moura, “Fascismo: Filho Dileto da Igreja e do Capital”, 1934
Die Aufstände 2013 in Brasilien erschütterten die fragile Stabilität, die die PT-Regierung aufgebaut hatte, und zeigten, dass die Unruhen in der Bevölkerung nicht durch Klassenbeschwichtigung befriedet werden können. Die Demokratie repräsentiert nicht mehr als die Interessen der Eliten, und wenn die Bevölkerung an die Grenzen stößt, die die Demokratie ihrer Fähigkeit auferlegt, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, werden brennende Straßen wieder zu ihrem Ausdrucksmittel.
Bewegungen für freien Transport, wie die MPL (Movimento Passe Livre), setzten die Tradition der autonomen Bewegungen fort, die um die Jahrhundertwende entstanden waren; ihre konstante Organisierung über ein Jahrzehnt war grundlegend für die Revolte, die 2013 ausbrach. Diese Revolte entging jeglicher Form der Kontrolle, sei es durch die Bewegungen selbst oder durch traditionelle Parteien, Gewerkschaften oder Organisationen. Aber als diese autonomen und antikapitalistischen Gruppen von der PT-Regierung wirkungsvoll unterdrückt wurden, nutzte die Rechte die Situation, um auf Straßendemonstrationen und im Internet an Bedeutung zu gewinnen.
Ende 2014 gewann die PT die vierte Wahl in Folge, Dilma Rousseffs zweiter Sieg. Besiegt, rief der Kandidat der PSDB [Partei der brasilianischen Sozialdemokratie], der zweitgrößten Partei des Landes, zu einem der ersten Proteste unter den Slogans “Fora Dilma” (“Dilma raus!”) und “zur Verteidigung der Demokratie” auf und half, die massiven Proteste für die Amtsenthebung von Dilma Rousseff zu katalysieren, die in den folgenden Jahren stattfanden. Ohne eine Chance, eine Wahl zu gewinnen, organisierten die konservativen Parteien ihre Vertreter im Parlament, breit unterstützt von den Medien und der Wirtschaftselite. Im Jahr 2016 gelang es ihnen, ein Amtsenthebungsverfahren durchzusetzen, das 13 Jahre PT-Regierungen beendete. Michel Temer von der PMDB (jetzt MDB-Brasilianische Demokratische Bewegung) übernahm das Amt.
Temers Regierung verfolgte ihre konservative Agenda und beschleunigte das neoliberale Projekt, das bereits unter der PT im Gange war. Auch Temer stieß auf viel Widerstand in der Bevölkerung: Gebäudebesetzungen gegen die Auflösung des Kulturministeriums, die Besetzungen von mehr als tausend Schulen und hundert Universitäten, gewalttätige Demonstrationen und Konfrontationen in Brasilia gegen die Haushaltssperre für Gesundheit und Bildung im Jahr 2016, Aufrufe zu einem Generalstreik im Jahr 2017 und eine Großdemonstration, die das Zentrum der Hauptstadt des Landes einnahm und mit zwei Ministerien in Flammen endete. All dies waren wichtige Episoden des Kampfes und des Widerstands, die sich gegen den Staat wehrten, aber sie haben das Wachstum der Rechten auf den Straßen nicht verlangsamt.
Am Vorabend der Präsidentschaftswahlen 2018 zeigten die Proteste der Kampagne #EleNão (“Nicht er”), die vor allem von Frauenbewegungen gegen Bolsonaro organisiert wurde, dass immer noch Tausende bereit waren, auf der Straße zu demonstrieren. Aber sie waren nicht in der Lage, ihre Aktionen und Agenden so zu radikalisieren, wie es die Bewegungen von 2013 getan hatten, oder Bolsonaros Sieg bei den Wahlen zu gefährden.
Es waren also nicht nur die autonomen Bewegungen, die an Schwung gewannen; auch die Reaktionäre lernten, wie sie immer mehr Menschen auf der Straße rekrutieren können. Als die Mainstream-Linke vor dem populärem Aufstand 2013 floh, um weiter der staatlichen Macht und Kontrolle nachzujagen, war das Ergebnis, dass die Rechte in der Lage war, sich als Wahllösung für den Bankrott des demokratischen Systems selbst zu präsentieren. Bolsonaro gewann die Präsidentschaftswahlen 2018, weil er besser als ein Großteil der Linken verstand, dass das Modell der repräsentativen Demokratie abgenutzt war. Der Faschismus wird durch die staatliche Reaktion auf Aufstände angeheizt.
Der größte Populist - oder nur ein weiterer Autoritärer?
Bolsonaro besiegte die PT mit 55% der Stimmen im zweiten Wahlgang. Aber zuvor, in der ersten Runde, zerschlug die Polarisierung die PSDB, den größten Rivalen der PT und die wichtigste Partei, die die brasilianische neoliberale Rechte seit dem Ende der Diktatur repräsentiert. Die Partei, die vor der PT zwei Legislaturperioden in Folge regierte, erhielt bei der Wahl 2018 mickrige 4% der Stimmen. Die Auswirkungen der Polarisierung und Radikalisierung, die durch rechte Bewegungen gefördert wurden, haben die politische Landschaft des Landes tiefgreifend verändert und Bolsonaros Persönlichkeit an die Stelle einer ganzen Partei als polare Alternative zur PT gesetzt.
Die schlimmsten Auswirkungen des Bolsonarismus sollten noch kommen. Wie der italienische Anarchist Malatesta warnte, der spanische Militante Durruti demonstrierte und die brasilianische Anarchistin Maria Lacerda de Moura bestätigte, hält jede Elite und jede Regierung den Faschismus als Waffe immer in Reichweite, um die Vorstöße der Arbeiterklasse einzudämmen oder zu verhindern. In Zeiten der wirtschaftlichen und politischen Krise können faschistische Persönlichkeiten und Programme die Eliten und die Wähler:innenschaft mit dem Versprechen einer Lösung verführen. Die neue populistische Welle, die wir heute auf der ganzen Welt sehen, repräsentiert diese Strategie. Auch wenn sie technisch gesehen keine Faschisten sind - oder derzeit nicht die Fähigkeit haben, es zu sein -, greifen Politiker wie Bolsonaro auf faschistische Dynamiken zurück, indem sie die Ressentiments der Mittelschichten und ihren Wunsch, die Kontrolle über den Staat wiederzuerlangen, in Hass auf Minderheiten und die wenigen Rechte, die sie errungen haben, kanalisieren. Neonazi-Zellen und Websites haben seit der Wahl Bolsonaros erheblich zugenommen. Je beleidigender, rassistischer und sexistischer sie sind, desto erfolgreicher haben sie Menschen für ihre Kampagnen gewinnen können. In diesem Zusammenhang hat das Internet wesentlich dazu beigetragen, die Polarisierung zwischen einer Linken, die sich auf den Wahlkampf zwischen Lulas PT gegen Bolsonaro konzentriert, auf der einen Seite und den konservativen, evangelikalen und neoliberalen Bewegungen, die Bolsonaro unterstützt haben, auf der anderen Seite zu vertiefen.
Ein Jahr nach der Wahl wurde Bolsonaro aus seiner Partei ausgeschlossen. Er bleibt der einzige Präsident ohne Partei in der brasilianischen Geschichte. Nachdem er das Internet genutzt hatte, um die Wahl zu gewinnen, regierte Bolsonaro weiter, indem er es als Bühne nutzte und der erste Präsident wurde, der Ankündigungen durch wöchentliche Livestreams auf Facebook machte. Wie Trump behielt Bolsonaro auch nach dem Sieg den kriegerischen Ton eines Mannes bei, der einen ewigen Wahlkampf führt und sein Projekt des Managements durch Zerstörung ankündigt.
Aber es sind nicht nur das Internet, das Fernsehen und der Einsatz von Bots in den sozialen Medien. Bolsonaros politische Karriere ist über drei Jahrzehnte alt; seine ganze Familie hat tiefe Verbindungen zu den Milizen, die einen Teil der organisierten Kriminalität in Rio de Janeiro kontrollieren. Seine drei Söhne, die alle Karriere als Parlamentarier gemacht haben, haben Milizionäre und deren Verwandte in ihren Büros beschäftigt, darunter den bekannten Mörder Adriano da Nóbrega. Da Nóbrega erhielt im Parlament einen Orden von Flávio Bolsonaro; seine inhaftierten Miliz-Kollegen wurden des Mordes an der Stadträtin Marielle Franco beschuldigt. Einer dieser Kollegen war ein Nachbar von Jair Bolsonaros Familie, die in der gleichen elitären Wohnanlage lebt.
Diese Milícias oder Milicianos sind im Bundesstaat Rio de Janeiro weit verbreitet: paramilitärische Gruppen von Polizisten, Ex-Polizisten, Feuerwehrleuten und Sicherheitsbeamten, die den Platz von kriminellen Organisationen einnehmen, um Anwohner:innen und Händler:innen “Sicherheitsdienstleistungen” zu verkaufen und illegale private Transportunternehmen zusammen mit dem Zugang zu Immobilien, Internetanschlüssen, Strom und anderen Ressourcen zu monopolisieren. Diese Gruppen haben ihren Ursprung in den Todesschwadronen, die in den 1960er Jahren entstanden, um als Auftragsmörder:innen unter der Militärdiktatur zu agieren. In den 1980er Jahren beherrschten diese Gruppen bereits mehrere Sektoren, gefestigt durch Terror und im folgenden Jahrzehnt durch die Duldung von gewählten Stadträten, Abgeordneten und Bürgermeistern in mehreren Städten Rios. Sie operieren nicht nur dort, “wo der Staat nicht hinkommt”, sondern sie stellen eine Symbiose des organisierten Verbrechens mit dem Staat dar. Was auch immer an Korruption aus den 14 Jahren PT-Regierungen hervorging, kann nicht mit 50 Jahren Aktivität dieser Gruppen verglichen werden - was der Familie Bolsonaro half, ihre Positionen als Parlamentarier:innen und Jair Bolsonaro als Präsident zu sichern.
Durch die Kombination von verzerrten Militärdoktrinen, Obskurantismus gemischt mit einer ultra-neoliberalen Agenda und Wahlkampfstrategien, die von Steve Bannon und seinen Kumpanen importiert wurden, führte Bolsonaro eine neue Art des Regierens ein - Regieren, um zu zerstören - und senkte die brasilianische Demokratie auf ein Niveau ähnlich dem von 1964. Der Kulturminister hat in einer Fernsehansprache Joseph Goebbels zitiert, neben mehreren anderen Anspielungen auf das Nazi-Regime. Bolsonaro ist ein starker Konkurrent auf dem Gebiet des globalen Populismus, und Brasilien ist der beste Kandidat, um das neue Epizentrum dieses tödlichen Virus und seines Todeskults zu werden.
“So what?”
Es ist nicht überraschend, dass ein Präsident, der die Militärdiktatur, Folter und Todesschwadronen verteidigt und enge familiäre Beziehungen zu den Milizen unterhält, eine Gesundheitskrise, die Hunderttausende tötet, mit völliger Gleichgültigkeit behandelt. Als die Pandemie Brasilien traf, folgte Bolsonaro dem gleichen Skript wie sein Meister, Donald Trump. Zuerst spielte er die Risiken der Krankheit herunter und widersprach Wissenschaftler:innen und Gesundheitsinstitutionen; dann widersetzte er sich der Schließung von Geschäften und anderen Abriegelungsmaßnahmen und weigerte sich, mit anderen Elementen der Regierung zusammenzuarbeiten oder Gelder für die Bundesstaaten und Städte freizugeben, um die Krankheit einzudämmen. Als er nach der Zahl der Todesfälle gefragt wurde, schockierte er die Öffentlichkeit mit Antworten wie “Na und?” und “Ich bin kein Totengräber.” Zu einer Zeit, als die Schwere der Pandemie nicht zu leugnen war, propagierte er den Einsatz von Hydroxychloroquin als Wundermittel, genau wie sein Vorbild in den USA. Seine Regierung schlug eine monatliche Beihilfe von 200,00 Real für Arbeitslose oder Arbeiter vor, die während der Isolationszeit nicht informell arbeiten konnten - und als dann linke Parlamentarier einen neuen Vorschlag von 600,00 Real genehmigten, erntete Bolsonaro die Lorbeeren dafür und gewann so an Popularität unter Brasiliens ärmsten Gruppen und Regionen. Im August 2020, als 3,5 Millionen Menschen infiziert waren, fuhr Bolsonaro fort, Desinformationen zu verbreiten, indem er behauptete, dass “die Mehrheit der Bevölkerung immun gegen das Coronavirus ist.” Mit Blick auf den Tod von über 100.000 Menschen sagte er: “Lasst uns mit dem Leben weitermachen.” [Stand 21.07.2021 sind es inzwischen 544.180 Tote]
In anderen Jahrzehnten hätten Staatsmänner, die mit einer Pandemie konfrontiert waren, leere Reden gehalten, dass der Schutz der Bevölkerung oberste Priorität habe. Heute sehen wir rechtspopulistische Führer, die stolz darauf sind, mit “Authentizität” zu sprechen, Dummheit “ohne Filter” und “ohne Demagogie.” Anführer wie Bolsonaro und Trump brechen mit dem Anstand, der früher von denjenigen erwartet wurde, die im Amt oder in den Medien waren. Sie verkünden offen ihre Unkenntnis über bestimmte Bereiche des Wirtschaftsmanagements (“Ich bin kein Ökonom!”) oder schmeicheln ihrer Basis mit rassistischen, frauenfeindlichen und klassistischen Gemeinheiten. Diesen Hauch von “Neuheit”, “Anti-System” und “Authentizität” zu verkörpern, bedeutet, sich dorthin zu wagen, wo nicht einmal die größten politischen Figuren der Linken oder Rechten hingehen.
Neben Drohungen, Truppen zu schicken, um den Obersten Gerichtshof zu schließen, und anderen sensationslüsternen Äußerungen, während andere Regierungen erzwungene Abriegelungen und das Kriegsrecht einführten, organisierte die Bundesregierung Brasiliens ihre eigene Version des Extremismus, indem sie den Tod in einem genozidalen Ausmaß zuließ. Dabei geht es nicht nur darum, die Wissenschaft zu ignorieren, sondern vielmehr darum, wissenschaftliches Management zu nutzen, um gezielte Eugenik und Genozid zu implementieren. Indem sie akzeptierten, dass 70% der Bevölkerung “unvermeidlich” an COVID-19 erkranken würden, haben Bolsonaro und seine Regierung bis zu zwei Millionen Opfer riskiert, vor allem unter denjenigen, die aufgrund ihrer Klasse, ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres Wohnortes bereits gefährdet sind.
Angesichts dessen müssen die Bewegungen für soziale Transformation zeigen, was es bedeutet, wirklich rebellisch zu sein, und Werkzeuge für den Kampf zurückfordern, die von unseren Feinden angeeignet und verzerrt wurden. Populistische Basen lehnen Institutionen ab, die um die Jahrhundertwende nur Antikapitalist:innen zu hinterfragen wagten. Ein Slogan aus den Antiglobalisierungsbewegungen, “Hass auf die Medien? Werde die Medien” wurde zu einer rechtsgerichteten Version korrumpiert, die darauf basiert, überprüfbare Fakten zu ignorieren und falsche Informationen zu verbreiten, um politische Ziele zu erreichen. Die Art und Weise, wie Pharmakonzerne das Feld der Wissenschaft monopolisieren, in Frage zu stellen, ist nicht länger ein Schritt zur Verbesserung des Zugangs der Bevölkerung zu Wissen, sondern ein Mittel zur Förderung eines potenziell tödlichen Obskurantismus. Diejenigen, die versuchen, politische Institutionen zu unterwandern, sind nicht mehr selbstorganisierte politische Initiativen, sondern diejenigen, die eine Regierungsform etablieren wollen, die auf Gerüchten und Autoritarismus basiert.
Wenn wir uns eine Zukunft jenseits der kapitalistischen Demokratie vorstellen, müssen wir uns eine soziale Revolution und das Ende der sozialen Klassen vorstellen, was eine permanente Konfrontation mit allen Hierarchien impliziert - nicht nur mit den offensichtlich autoritären Figuren wie Trump, Bolsonaro und Orbán. Die Alternative wird ein noch brutalerer und ungleicherer Staat sein, der sich für immer auf unsere Hälse kniet, während wir um Atem kämpfen.
IV. Solidarität und Angriff in der COVID-1984-Ära
“…die fortschrittliche staatliche Neuzusammensetzung war ein Rückschritt. Ein Rückschlag. Für diejenigen, die sich der kollektiven Emanzipation anvertrauen, muss der Bezugspunkt immer das höchste Niveau sein, das durch den sozialen Kampf erreicht wird, und niemals das, was möglich ist, zu erreichen. Das Mögliche ist immer der Staat, die Partei, die bestehenden Institutionen. Aber die Emanzipation kann dort nicht aufhören.”
-Raul Zibechi e Decio Machado, Os Limites do Progressismo
“Die Geschichte vergisst die Gemäßigten.”
-Andrew Bird
Seit den Wahlen 2018 haben sich Menschen und soziale Bewegungen gefragt, welche Form der radikale Widerstand gegen die Regierung von Jair Bolsonaro annehmen würde. Wie können wir einem Feind widerstehen, der jede Kontroverse in Schwung zu verwandeln scheint und jeden Widerstand in einen Vorwand für weitere Repression? Wie können wir eine Opposition mobilisieren, die nicht durch eine pazifizierende und versöhnliche Linke entmündigt wird, die sich an die staatliche Verwaltung gewöhnt hat und die Revolte als Bedrohung für die Ordnung sieht, mit der sie sich identifiziert? Einige Episoden haben gezeigt, dass viele Menschen bereit sind, den ersten Schritt zu tun - zum Beispiel im Jahr 2019, als Antifaschist:innen mit Gruppen zusammenstießen, die den Jahrestag des Militärputsches von 1964 feierten.
In den ersten Monaten der Pandemie zeigten sich die besten Antworten in den täglichen Aktivitäten von sozialen Bewegungen, Antifaschist:innen und organisierten Fußballfans, die sich regierungsfreundlichen Straßenaktionen entgegenstellten und diese blockierten, von Kurieren, die landesweit beispiellose Streiks organisierten, und von Bewohner:innen von Favelas und Besetzungen, die Solidaritätsaktionen organisierten. Wir sehen in diesen Beispielen ein vielversprechendes Modell der gegenseitigen Hilfe zwischen armen und ausgeschlossenen Menschen und der direkten Aktion gegen die herrschende Ordnung und diejenigen, die sie unterstützen. Solche Kämpfe beschränkten sich nicht auf das, was Politiker:innen für möglich halten – was lediglich die Verwaltung der Katastrophe darstellt. Sie haben nicht abgewartet, sondern sich mit der Situation auseinandergesetzt und sich geweigert, sich lähmen zu lassen. Das ist es, worauf wir setzen.
Take Back the Streets: Antifaschist:innen und Fußballfans
“Ohne die hierarchische, hegemoniale Natur des Staates, der die Gewaltanwendung, die Wirtschaft, die offizielle Ideologie, die Information und die Kultur monopolisiert; ohne die allgegenwärtigen Sicherheitsapparate, die alle Aspekte des Lebens durchdringen, von den Medien bis zum Schlafzimmer; ohne die disziplinierende Hand des Staates als Gott auf Erden, könnte kein System der Ausbeutung oder Gewalt überleben.”
-Dilar Dirik, Radical Democracy: The First Line Against Fascism
Den antifaschistischen Kampf, der in den Medien und in den Agenden dieser Bewegungen auftauchte, hatte es in Brasilien seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben; es gab eine breite Berichterstattung über Proteste, aber auch Drohungen mit Kriminalisierung und Repression. Ab 2015 weiteten die Rechten ihre Straßenpräsenz mit sonntäglichen Aufmärschen aus, um die Amtsenthebung der PT zu fordern, und dann, 2018, um Bolsonaro zu unterstützen. Nach der Wahl überarbeiteten rechte Gruppen dieses Modell erneut und veranstalteten “Proteste” zugunsten der Regierung. Sie organisierten diese an Wochenenden, um den Verkehrs- und Handelsfluss an Wochentagen nicht zu behindern - das Gegenteil der antikapitalistischen Bewegungen, die sich mit dem Ziel organisieren, den städtischen Verkehr während der Rushhour mitten in der Woche lahmzulegen.
Dies war kein Triumph der rechten Basisorganisation, sondern wurde mit direkter Unterstützung von Polizei und Sicherheitsbehörden aufgebaut. An die Presse durchgesickerte Akten der Militärpolizei zeigten, dass die Polizeiführung regierungsfreundliche Demonstrationen als harmlos behandelt und sie sogar dann lobt, wenn sie gegen Gesundheitsmaßnahmen wie das Gebot, Masken zu tragen, verstoßen. Obwohl es verfassungswidrig ist, politische Demonstrationen auf ideologischer Basis zu diskriminieren und bestimmte Organisationen und sogar politische Parteien mit Straftaten wie Vandalismus in Verbindung zu bringen, überwachte die Polizei nicht einmal die Aktionen der Rechten, während Proteste der Opposition als “Bedrohung der Ordnung” eingestuft und gewaltsam unterdrückt wurden. Einmal mehr sehen wir die Linien des Ausschlusses am Werk in der Art und Weise, wie sich die Repression auf Demonstrationen der linken, peripheren, schwarzen und armen Mehrheit konzentriert, während Polizeibeamte die meist weißen Bolsonaro-Anhänger:innen aus gehobenen Vierteln, die Karawanen von Luxusfahrzeugen fahren, eskortieren, schützen und mit ihnen Fotos machen. Der Staat versucht zu bestimmen, welche politischen Aktionen auf den Straßen Raum gewinnen und welche zerschlagen werden.
Dem zum Trotz organisierten Fußballfans und prekär Beschäftigte im Jahr 2020 mehrere öffentliche Demonstrationen. Am 3. und 17. Mai unterbrachen Antifaschist:innen in Porto Alegre die Proteste der Bolsonaristen, die die Rückkehr der Militärdiktatur forderten, und skandierten “Tretet zurück, Faschisten.” Dies waren einige der ersten Demonstrationen des Jahres - und nach vielen Monaten - die die Hegemonie der Bolsonarist:innen auf den Straßen herausforderten.
Wie überall auf der Welt debattierten die Medien darüber, ob es “notwendig” sei, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln, um Demonstrationen zur Unterstützung von Bolsonaro und für die Wiedereröffnung von Geschäften entgegenzutreten. Die Bosse und Expert:innen sehen kein Problem darin, uns in Busse zu drängen, in Warteschlangen, in die prekären Arbeitsplätze und Lieferdienste, die expandiert haben, während wir unter dem Virus und der Entbehrung leiden - also halten wir es für notwendig, uns zu versammeln, um die Verteidiger:innen dieses mörderischen Wirtschaftssystems und die Zirkulation von Arbeit für die Produktion und Waren für den Konsum zu blockieren.
Am 9. Mai organisierten etwa 70 Corinthians-Fans in der Stadt São Paulo eine kleine Aktion zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie eine Pro-Regierungs-Kundgebung. Die Aktion blockierte den Protest der Bolsonarist:innen. Zusammen mit Bildern von einer ähnlichen Aktion, vom 17. Mai in Porto Alegre, erregte dies Aufmerksamkeit in den sozialen Medien und brachte mehr Menschen auf die Straße. Fans verschiedener Fußballteams gingen in São Paulo auf die Straße, um Proteste von Anhänger:innen des Präsidenten am 31. Mai zu vereiteln, dem Tag, an dem sich diese Aktionen auf nationaler Ebene ausbreiteten. Fans von Gaviões da Fiel, eine der größten Gruppen des Landes, mit einer politischen Geschichte, die aus den schlimmsten Jahren der Diktatur stammt, riefen zu Demonstrationen gemeinsam mit rivalisierenden Fangruppen wie Palmeiras, São Paulo und Santos auf. Dieser Moment der Einheit zwischen verschiedenen Fußballvereinen und anderen antifaschistischen Gruppen zog eine Menschenmenge an, die fast zehnmal größer war als die der Bolsonarist:innen. Die Polizei versuchte, Ketten zu bilden, um sie isoliert zu halten, aber es kam zu einem Zusammenstoß, als Antifaschist:innen auf Provokationen von Demonstrant:innen reagierten, die US-Fahnen und Fahnen der ukrainischen Neonazi-Gruppe Pravy Sektor trugen. Die Polizei griff gegen Antifaschist:innen ein und schützte die Neonazis auf der Paulista Avenue. Antifaschist:innen leisteten Widerstand, errichteten Barrikaden und blockierten lange Zeit die Straßen.
Die Szenen hallten im ganzen Land nach, insbesondere das Foto eines Lieferarbeiters der Gig Economy, der Steine auf die Polizei wirft. Unter dem Slogan “Somos Democracia” (“Wir sind Demokratie”), der von vielen Teilnehmer:innen skandiert wurde, verbreitete sich dieses Beispiel einer kämpferischen und organisierten Opposition. Die Welle der Revolte, die sich nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai über die Vereinigten Staaten ausbreitete, stärkte die antirassistischen Proteste in Brasilien weiter. Die Barrikaden, die am 31. Mai auftauchten, zeigten, dass die Kämpfe gegen Rassismus, Regierungen, die mit dem Faschismus flirten, und ihre repressiven Lakaien vom Norden bis zum Süden des Globus grundsätzlich gleich sind.
https://twitter.com/Antimdia1/status/1267870123039305731
Dieser Tweet zeigt Antifaschist:innen in São Paulo, die Nationalisten mit ukrainischen Neonazi-Symbolen und US-Flaggen gegenüberstehen. Die Militärpolizei schützt die Nationalist:innen.
Insgesamt gab es am 31. Mai in mehr als 15 Städten Proteste. In Rio de Janeiro traten Anarchist:innen und Antifaschist:innen einer Pro-Bolsonaro-Aktion an der Copacabana entgegen, es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Antifaschist:innen und Nationalist:innen. Auch in Belo Horizonte begannen die Aktionen mit kleinen Aufrufen und wurden zu großen Demonstrationen. In vielen Fällen gelang es, Demos, die Bolsonaro unterstützten und die Wiedereröffnung von Geschäften forderten, zu blockieren, zu verzögern oder sogar zu verhindern. Die Fußballfans von Resistência Alvinegra riefen zum ersten Mal zu einer Kundgebung auf der Praça do Papa auf; die wöchentlichen Demonstrationen, die mit einem Dutzend Menschen begannen, wuchsen am 31. Mai und am 7. Juni zu Tausenden an, wobei viele Unterstützer:innen und soziale Bewegungen demonstrierten, um die rechten Aufmärsche zu blockieren, antifaschistische Fahnen und Lieder trugen, George Floyd und auch João Vitor und Rodrigo Ciqueira ehrten, die von der Polizei in Rio de Janeiro ermordet worden waren, sowie die Stadträtin und schwarz-feministische Kämpferin Marielle Franco, die 2018 von Milizionären ermordet wurde.
In den folgenden Wochen schlossen sich weitere Städte diesen Protesten an. In Salvador inspirierte die Protestwelle in Brasilien und den USA Gruppen wie Reação Antifascista Salvador, organisierte Fußballvereine, Gewerkschaften und Quilombos, um eine Massendemonstration am 7. Juni zu organisieren. In Curitiba demonstrierte am 1. Juni eine Demonstration mit einer massiven antifaschistischen Beteiligung durch das Stadtzentrum, verbrannte die riesige Nationalflagge vor dem Regierungspalast und stieß mit der Polizei zusammen.
Trotz aller Probleme und interner Konflikte besitzen Fußballvereine eine enorme Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren und den Dialog zwischen verschiedenen Sektoren der Gesellschaft zu eröffnen. Wir sehen dies am jüngsten Beispiel der organisierten Fußballfans in Chile, die sich an die Frontlinie stellten, um die Proteste 2019 zu verteidigen. Im Jahr 2013 zog die Besetzung zur Verteidigung des Gezi-Parks in Istanbul, Türkei, auch Fans an, die interne Rivalitäten beiseite ließen, um den Park und die Menschen, die den Taksim-Platz besetzten, zu verteidigen. In seinem Antifa-Handbuch argumentiert Mark Bray, dass “einige der heftigsten antifaschistischen Konflikte im Kontext des Fußballs stattgefunden haben.” Diese Tradition reicht bis in die 1970er Jahre zurück, als faschistische Gruppen Fußballvereine und -spiele als Treffpunkt nutzten, um neue Mitglieder zu rekrutieren, und Antifaschist:innen dies verhinderten.
Leider schwanden die Proteste, vor allem in São Paulo, der Stadt mit den größten beteiligten Fußballvereinen. Nach den Zusammenstößen vom 31. Mai versuchten die Staatsregierung und Polizeibeamte, zwischen Antifaschist:innen und den Organisator:innen der regierungsfreundlichen Kundgebungen zu vermitteln, damit diese nicht wieder gleichzeitig Proteste auf der Avenida Paulista organisieren. Bewegungen wie der “Povo Sem Medo”, der mit dem linken Bürgermeisterkandidaten Guilherme Boulos verbunden ist, das Netzwerk “Somos Democracia” und andere schwarze Bewegungen beschlossen, die Gerichtsentscheidung zu respektieren, die Kundgebungen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort am 7. Juni verbot. Danach machte es keinen Sinn, einen Gegenprotest gegen die Faschist:innen zu organisieren, wenn es nicht bedeuten würde, sie tatsächlich zu konfrontieren.
https://twitter.com/crimethinc/status/1269707749434314752
Die Gegenreaktion nahm in anderen Staaten andere Formen an. Fußballspiele fanden ohne Zuschauer:innen statt, aber den Vereinen war es erlaubt, das Stadion mit ihren Fahnen zu schmücken. In Belo Horizonte jedoch verbot der brasilianische Fußballverband (CBF) den Mitglieder:innen von Resistência Alvinegra, nachdem sie eine Fahne mit dem Bild von Marielle Franco und dem Wort “Antifa” gezeigt hatten, dieselbe Fahne, die in den Monaten zuvor bei Straßenprotesten zu sehen gewesen war. Die Erklärung der CBF zeigte, dass nach ihren Regeln das Wort “Antifa” mit rassistischen Ausdrücken gleichzusetzen ist.
Die Angst der Behörden vor kämpferischen Ausdrücken und Bewegungen ist offensichtlich. Wir haben eine Welle von Unruhen in Lateinamerika erlebt, mit Ecuador, Kolumbien und Chile, die sich gegen Polizeigewalt, hohe Lebenshaltungskosten und neoliberale Sparmaßnahmen erhoben. Einige der brasilianischen Linken und viele Antikapitalist:innen lassen sich von diesen Kämpfen inspirieren und fragen sich, ob Aufstände auch hier beginnen könnten. Jair Bolsonaro selbst brachte 2019 zum Ausdruck, dass die Regierung die Protestwelle in den Nachbarländern mit Sorge betrachtet; 2020 zeigte er sich besorgt über die Radikalisierung auf den Straßen und befürchtete, dass sich Brasilien “in ein Chile” verwandeln könnte, als Reaktion auf die Auswirkungen der durch die Pandemie verursachten sozialen Krise. Die Manöver der Regierung deuten jedoch auf den Wunsch hin, das chilenische neoliberale Modell zu imitieren, das den Kapitalist:innen völlige Freiheit gibt, die Ausbeutung von Arbeit und Umwelt zu intensivieren, während der Staat die sozialen Leistungen für die Bevölkerung reduziert. In der Tat haben sowohl die durch die Pandemie verursachte Krise als auch die Morde druch die Polizei zu Protesten und Zusammenstößen geführt, wie zum Beispiel am 15. Juni, nachdem Polizisten, die als private Sicherheitsleute arbeiten, den jungen Guilherme Guedes ermordet hatten.
https://twitter.com/Antimdia1/status/1273062370164834313
Bolsonaro und seine verbündeten Gesetzgeber versuchten, Donald Trump zu imitieren, indem sie Antifaschist:innen zu einer “inländischen terroristischen Bedrohung” erklärten. Sie mögen das Gesetz nicht wirklich nutzen, um Antifaschismus zu verbieten, aber die Geschichte zeigt uns, dass Bolsonaro sein Ziel direkt erreichen kann, indem er seine Basis in Straßengewalt katalysiert. Rechtsextreme Gruppen machen bereits die Drecksarbeit, die durch die Rede des Präsidenten legitimiert wurde: Sie dringen in Krankenhäuser ein, um zu “beweisen”, dass sie, wie Bolsonaro unterstellte, nicht voller Patient:innen sind, sie schänden Särge, um Gerüchte zu überprüfen, dass sich darin keine toten Menschen, sondern nur Steine befinden, um Beerdigungen zu simulieren, sie greifen medizinisches Personal in Krankenhäusern und attackieren Proteste für mehr Ressourcen zur Unterstützung von Patient:innen. Wir sahen Gruppen wie “300 Pelo Brasil” (“300 für Brasilien”), die in Brasilia zelteten und mit Fackeln und einer Ästhetik, die explizit von der faschistischen “Unite the Right”-Mobilisierung in den USA im August 2017 inspiriert war, zum Obersten Gerichtshof marschierten. Obwohl sie einige Verhaftungen hinnehmen mussten, zeigen sowohl die “300” (die nicht mehr als 30 Mitglieder haben) als auch andere weniger organisierte Gruppen, dass die Auswirkungen der Bolsonaro-Regierung über den Schaden hinausgehen, den staatliche Institutionen anrichten können - sie bringen organisierten Faschismus und Rassismus auf die Straße.
Aber überall in Amerika senden die Menschen eine klare Botschaft: Wir werden den Aufstieg des Faschismus nicht tolerieren, auch nicht die Morde der Polizei, der am stärksten faschistischen Institution in unserer Gesellschaft. Die Straßen gehören nicht denen, die “für die Regierung protestieren” und die Drecksarbeit machen, die die Polizei (noch) nicht vor der Kamera erledigen kann. Wir werden weiter auf die Straße gehen, mit den Fußballfans und anderen, auch wenn den traditionellen Parteien und sozialen Bewegungen der Mut fehlt, sich uns anzuschließen.
Breque dos App: “App-Streik” in der Gig-Economy
“Niemand auf der Welt, niemand in der Geschichte, hat jemals seine Freiheit erlangt, indem er an das moralische Empfinden der Menschen appellierte, die ihn unterdrückten.”
-Assata Shakur
Während der Pandemie organisierten die Arbeiter:innen Streiks, um die Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte und Arbeitsbedingungen zu stoppen. Als unverzichtbar angesehen, aber überarbeitet und ohne PSA oder Schutzausrüstung, nahmen Arbeiter:innen aus wichtigen Sektoren wie der U-Bahn und der Post an erfolgreichen Streiks teil. Auch Mieter:innenvereinigungen schlossen sich zusammen, um zum Mietstreik und zu Entlastungen aufzurufen, was zwar weniger Resonanz in den Medien fand, aber dennoch eine entscheidende Rolle spielte. Eine neue Gruppe stach durch ihre Größe, Stärke und organisatorische Kreativität hervor, als sie sich zusammenschloss, um einem der erfolgreichsten Unternehmen während der Pandemie die Stirn zu bieten: Entregadores Antifascistas,, “Antifaschistische Kuriere”.
Profis, die mit ihren eigenen Fahrrädern oder Motorrädern für Essenslieferungs-Apps und ähnliches arbeiten, sahen einen deutlichen Anstieg der Nachfrage nach ihren Diensten. Ihre Arbeit wurde für unverzichtbar erklärt, damit andere zu Hause bleiben konnten. Währenddessen versuchten diejenigen, die nicht zu Hause bleiben konnten, wie die neun Millionen Menschen, die in der ersten Hälfte des Jahres 2020 arbeitslos wurden, auf dem informellen Arbeitsmarkt über die Runden zu kommen - der bereits mehr als 40% der brasilianischen Arbeitskräfte beschäftigte. Internationale Unternehmen wie Uber und Rappi und die brasilianische Ifood sind um 50% gewachsen, indem sie Dienstleistungen absorbierten und massenhaft entlassene Arbeiter:innen von Unternehmen aufnahmen, die ihre Aktivitäten unterbrachen oder aufgrund der Pandemie, die die Arbeitslosenquote des Landes auf 13,3% ansteigen ließ, in Konkurs gingen. Dennoch bedeuteten mehr Aufträge nicht mehr Verdienst für diejenigen, die arbeiten. Die App-Kuriere erhielten nicht nur weniger Lohn, sie waren auch einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt.
Die Gruppe Entregadores Antifascistas entstand zunächst in São Paulo, um sich gegen die opportunistische Logik digitaler Unternehmen zu wehren, die die Arbeitsbeziehungen individualisieren. Galo, der zu einem der Gründungsmitglieder werden sollte, nahm an seinem Geburtstag im März 2020 ein Video auf, in dem er seinem Frust Luft machte, nachdem er von der App blockiert wurde, weil er eine Lieferung wegen eines platten Reifens nicht zu Ende bringen konnte. Das Video ging viral und dies ermutigte ihn, eine Petition zu erstellen, in der er Mahlzeiten, Schutzausrüstung und andere grundlegende Rechte forderte, die von den Unternehmen verweigert werden, die Kuriere so behandeln, als wären sie “Unternehmer:innen” und “Partner:innen” und nicht Angestellte (in einem solchen Ausmaß, dass die Unternehmen behaupten, sie seien die eigentlichen Angestellten der Nutzer). Sie erhielt mehr als 600.000 Unterschriften. Als sich andere landesweit der Sache anschlossen, schloss sich die Gruppe unter dem Namen Entregadores Antifascistas zu einer informellen Gewerkschaft und einer Bewegung zusammen, die eine autonome Kooperative werden wollte. Dutzende von ihnen nahmen an den antifaschistischen Protesten vom 7. Juni teil, als sie ein Video drehten, in dem sie andere Kuriere aufforderten, sich der Bewegung anzuschließen.
Nach der Teilnahme an den Protesten der organisierten Fußball-Fanclubs und der antifaschistischen Bewegung rief die Gruppe zu einem eintägigen Streik (dem “Breque dos App”) gegen die Nutzung von Liefer-Apps am 1. Juli auf. Dieser nationale Kurierstreik fand in dreizehn Bundesstaaten statt und forderte Rechte wie bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Die einzige Möglichkeit, die Strafmaßnahmen der Apps gegen Gruppen oder Einzelpersonen, die sich daran beteiligten, zu verhindern, bestand darin, die Bewegung weiter auszuweiten. Sie blockierten Straßen mit Hunderten von Motorrädern und blockierten die Hauptbüros der Liefer-App-Unternehmen. Ein zweiter Streik fand am 24. Juli statt.
Das Beispiel von Entregadores Antifascistas zeigt, wie die “Uberisierung” von Arbeitsverträgen die Prekarität der Beschäftigten inmitten der ohnehin dominierenden Informalität verschärft. Diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, sind keine autonomen Unternehmer:innen auf gleicher Augenhöhe mit den Unternehmen, die sie beschäftigen. In Galos Worten: “Wir sind keine Unternehmer:innen, wir sind Arbeitskräfte!” Indem sie von diesen Apps und ihren Algorithmen abhängig werden, haben die Arbeiter:innen nur die Kontrolle verloren. Die alte Klassenteilung zwischen Elite und Proletariat, Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bleibt bestehen. Die von diesen Unternehmen und ihrer “Gig-Economy” eingeführte Modernisierung ist ein digitaler Feudalismus, der das Fehlen von Regulierungen ausnutzt, um feste Zahlungen, Arbeitsrechte, Arbeitsplatzsicherheit und Rente abzuschaffen und Fahrer:innen, Kuriere und andere App-Arbeiter:innen nur für die gefahrenen Kilometer oder die erledigten Lieferungen zu bezahlen, ohne feste Regeln. Nur ein von Grund auf aufgebauter Basiskampf, der es diffusen und isolierten Individuen ermöglicht, sich zu versammeln, um eine Sprache des Handelns zu schaffen, kann streiken, den Bossen Kosten aufbürden und echte Veränderungen erreichen.
Solidaritätsaktionen und gegenseitige Unterstützung: Wir kümmern uns um uns!
Zusätzlich zu den direkten Auswirkungen auf die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen, zeigen Prognosen, dass durch die Pandemie bis zu 66 Millionen weitere Menschen weltweit dem Hunger ausgesetzt sein werden. In Brasilien ist neben den neun Millionen verlorenen Arbeitsplätzen der Hunger eines der ersten Probleme, die sich zeigen, da die Wirtschaft teilweise geschlossen ist und viele Menschen zu Hause bleiben. Die Regierung Bolsonaro hat zu dieser Situation beigetragen: In seiner ersten Amtshandlung als Präsident hat Bolsonaro Organisationen, die für die Bekämpfung des Hungers zuständig sind, wie den Nationalen Rat für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit (Consea), abgeschafft. Im Jahr darauf erklärte er gegenüber der internationalen Presse: “Es gibt keinen Hunger in Brasilien.”
Zusammen mit der Gesundheits- und Wirtschaftskrise kam es zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise um bis zu 40%. In São Paulo zum Beispiel verzeichneten die Erzeuger:innen in den ersten Monaten der Pandemie einen Rückgang von bis zu 80% beim Verkauf von Gemüse an Bars und Restaurants. Bis zu 70% einiger Produkte wurden in den Müll geworfen, während Tausende in den Städten keine Möglichkeit hatten, ihre Familien zu ernähren. Die Logik des Marktes veranlasst die Produzent:innen, Lebensmittel wegzuwerfen, anstatt sie mit den Hungernden zu teilen, und behindert die rationale Verteilung von Ressourcen in Krisenzeiten. Wenn es keine Gewinne einbringt, ist es für sie nicht sinnvoll, Lebensmittel zu denen zu bringen, die sie am meisten brauchen.
Viele Unternehmen haben versucht, unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit zu werben, indem sie verarbeitete und industrialisierte Lebensmittel spendeten, um ihre Marke in Fernsehberichten erwähnt zu bekommen. Sie nutzten den brasilianischen Unternehmensjournalismus, um Prime-Time-Millionen-Minuten zu besetzen und so kostenlose Publicity und ein Image der “Solidarität” für ihre Marken zu bekommen.
Im Gegensatz dazu schaffte es die MST (Bewegung der Landlosen Landarbeiter) zwischen März und Juli, 2300 Tonnen Lebensmittel an Gemeinden im ganzen Land zu spenden. Die Familienbetriebe sind für bis zu 80% der Obstproduktion und 60% des Gemüses verantwortlich, das von der Bevölkerung konsumiert wird. Der MST nutzte das gleiche Modell, um Lebensmittel unter dem Marktpreis zu produzieren und zu verkaufen, und spendete während der Pandemie landesweit Reis, Bohnen, Pinienkerne, Yerba Mate, Maismehl, Obst und Gemüse.2
Andere Initiativen demonstrierten die anarchistischen Prinzipien der gegenseitigen Hilfe in den städtischen Randgebieten, in besetzten Häusern und in den Favelas, indem sie Lebensmittel verteilten und sogar gemeinschaftlich hergestellte Antiseptika anboten. In der Paraisópolis, einer der größten Favelas in São Paulo, organisierten die Bewohner:innen ihr eigenes Gesundheitsversorgungsnetz und bildeten 240 Bewohner:innen in 60 Stützpunkten aus, um in Notfällen als Ersthelfer:innen zu fungieren. Darüber hinaus verteilten sie Mahlzeiten, um diejenigen zu unterstützen, die krank waren, die zu Hause blieben, weil sie nicht arbeiten konnten, und diejenigen, die keine andere Möglichkeit hatten, als auszugehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Solidarität ist keine Dienstleistung oder ein “Job” - sie ist vielmehr ein Weg, die Welt gemeinsam zu verändern. Sie ist eine wesentliche Aktivität für jede revolutionäre Bewegung im Laufe der Geschichte gewesen. Menschen, die im Kapitalismus erzogen wurden, kennen nur das Knappheitsmodell, das durch individualisierte Eigentumsrechte geschaffen wird. In Gesundheits- oder Wirtschaftskrisen glauben sie, dass die Lösung in einem noch intensiveren Wettbewerb um Ressourcen, um Geld, sogar um die Gesundheit selbst liegt. Nur direkte, freiwillige, sich gegenseitig unterstützende und autonome Aktionen können diese Tendenz zur Konkurrenz und Isolation überwinden.
Genoss:innen von der Föderation der Revolutionären Gewerkschaftsorganisationen in Brasilien (FOB) argumentieren, dass die Spanische Grippe, die letzte globale Pandemie, uns etwas über antikapitalistische Werte für die aktuelle Krise lehren kann. Vor einem Jahrhundert tötete die Spanische Grippe mehr Menschen als die vier Jahre des Ersten Weltkriegs. Sie verwüstete brasilianische Städte und tötete 35.000 Menschen, deren Leichen sich auf den Straßen und in Massengräbern in Städten wie Rio de Janeiro stapelten. In dieser Zeit brach der erste bedeutende Generalstreik aus - der Generalstreik von 1917 -, gefolgt vom anarchistischen Aufstand im November 1918 in Rio de Janeiro, der schließlich Rechte für die gesamte Arbeiter:innenklasse errang. Beide wurden von den anarchistischen Gewerkschaftsbewegungen angeführt, die zu dieser Zeit hegemonial waren.
Gesund zu bleiben ist sowohl eine defensive als auch eine offensive Aufgabe, genau wie die Organisation, die wir während der Proteste gegen Rassismus und die Polizei in den USA und in den Besetzungsbewegungen von Plätzen und Gebäuden in den vorangegangenen Jahren gesehen haben. Wir brauchen Formen der Fürsorge, die die unterdrückten Klassen nähren und gleichzeitig den Staat und den Kapitalismus untergraben - und nicht nur eine Krücke, um die beabsichtigte Prekarität ihrer Leistungen auszugleichen. Fußballfans haben diese Lektion bereits gelernt, indem sie die Verteilung von Essenskörben bei Protesten organisierten.
Pandemien, soziale Konflikte und Solidarität unter den Armen und Ausgeschlossenen sind in diesen Ländern nichts Neues. Mit einer revolutionären Perspektive handelnd, können Kollektive und Bewegungen mehr tun, als nur die Leere staatlicher Dienste zu “füllen”. Wir wollen zeigen, dass neue Beziehungen und Prinzipien die durch kapitalistische Tyrannei verursachten Probleme lösen und die Logik, die solche Probleme verursacht, überwinden können.
Schlussfolgerung: Auf dem Weg zum “alten Normal”?
“Für uns ist Politik etwas anderes. Dies sind die Worte von Omama und dem Volk der Xapiri, die er uns hinterlassen hat. Das sind die Worte, die wir in der Zeit der Träume hören und die wir bevorzugen, weil sie unsere sind. Die Weißen träumen nicht so weit wie wir. Sie schlafen viel, aber sie träumen nur von sich selbst.”
-Davi Kopenawa Yanomami, “A queda do céu”, 2016
“Als die Ingenieure mir sagten, dass sie Technologie einsetzen wollen, um den Doce River zu bergen, fragten sie mich nach meiner Meinung. Ich antwortete: ‘Mein Vorschlag ist sehr schwer in die Praxis umzusetzen. Denn wir müssten alle menschlichen Aktivitäten stoppen, die den Flusskörper betreffen, hundert Kilometer am rechten und linken Ufer, bis er wieder zum Leben erwacht.’ Da sagte einer von ihnen zu mir: ‘Aber das ist unmöglich. Die Welt kann nicht aufhören. Und die Welt blieb stehen.”
-Ailton Krenak, “O Amanhã Não Está à Venda”, 2020
Trotz der Ratschläge und der überlieferten Weisheit des Krenak-Volkes ist der Kapitalismus nicht stehen geblieben, obwohl wir die Auswirkungen der kurzen Verlangsamung der wirtschaftlichen und industriellen Aktivitäten in den Großstädten während einiger Momente des Lockdowns gesehen haben. Dennoch: es gibt keine “neue Normalität”. Die nächste Normalität wird nicht “neu” sein, sondern eher eine Neuauflage der alten Korruption, der Gier, des Autoritarismus und der Krisen eines Systems, das dazu verdammt ist, die Krise zu seiner Herrschaftsform zu machen.
Wir sahen, wie Donald Trump die Wahl in den Vereinigten Staaten gegen einen anderen Rassisten und Sexisten verlor, der eine Polizistin zu seiner Vizepräsidentin wählte; wie vorhergesagt, sahen wir am 6. Januar 2021, wie Trump versuchte, sich gegen die Niederlage an der Wahlurne zu wehren, indem er seine Basis dazu aufforderte, das Kapitol zu stürmen. Trumps Niederlage wirkt sich direkt auf die Zukunft von Bolsonaros Außenpolitik aus, die stets den US-imperialistischen Interessen in Lateinamerika untergeordnet ist. Der brasilianische Präsident ist der letzte verbliebene erklärte Unterstützer von Trumps Wahnvorstellungen, er reproduziert sein Narrativ des Wahlbetrugs und ist praktisch das einzige Staatsoberhaupt, das die Invasion der Faschist:innen in den US-Kongress am 6. Januar rechtfertigt. Bolsonaro spielt darauf an, dass es 2022 Wahlbetrug geben wird, und ahmt Trumps Rede nach, um seine Niederlage bei den Wahlen anzufechten.
In einem der vielen Skandale, in die Bolsonaro und seine Regierung verwickelt sind, wurden 7,5 Millionen Reals (1,4 Millionen US-Dollar), die für die Herstellung von COVID-19-Tests gesammelt wurden, an eine Organisation gegeben, an der die Frau des Präsidenten und der stellvertretende Regierungschef im Senat beteiligt sind. Die neue Normalität, ob in Bezug auf die Pandemie oder den Bolsonaro-Populismus, ähnelt der Normalität unter anderen Regierungen und Krisen. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft: 33 Brasilianer:innen wurden während der Pandemie zu Milliardären und die Superreichen vergrößerten ihr Vermögen, während zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung arbeitslos ist. Menschen sterben ohne Versorgung oder Tests, während korrupte Manager ein Luxusleben führen, das mit Geldern finanziert wird, die zur Bekämpfung des Coronavirus bestimmt sind.
Die Geschichte folgt nicht einer geraden Linie des “natürlichen Fortschritts”. Die tyrannischen Gespenster, von denen manche glauben, sie seien mit dem Einzug der Moderne verschwunden, suchen uns weiterhin heim wie der “Pestbazillus”, vor dem Albert Camus gewarnt hat. Wir haben die Welt weder von totalitären und obskurantistischen Gespenstern noch von infektiösen Pandemien befreit - beides bedroht uns auf dieselbe Weise wie vor Jahrhunderten. Wie der Aufstieg des Faschismus sind auch die kommenden Epidemien bereits im Gange; Expert:innen zufolge können sie durch Viren ausgelöst werden, die in bedrohten Biomen, wie dem Amazonas, vorkommen. Die Katastrophe, in der wir leben und die alle Menschen auf der Welt heute verbindet, ist kein aus der Geschichte ausgebrochenes Kapitel. Sie ist das Produkt der kapitalistischen Ausbeutung und des Agrobusiness, der Domestizierung und der Verwüstung des tierischen und pflanzlichen Lebens, von der kosmischen bis zur mikrobiologischen Ebene. Die autoritären Kräfte, die aus diesem Moment Kapital schlagen, um ihre Taktiken zu verfeinern und ihre Gesetze brutaler zu gestalten, sind bereits in den vergangenen Jahrzehnten entstanden; der rechtsnationale Populismus erfasst alle Kontinente und wirft einen Schatten auf alle. Von Politikern wie Trump und Bolsonaro bis hin zu autoritären Gruppen wie dem Islamischen Staat und faschistischen Banden zielen die Autoritären darauf ab, die Welt in einen nationalistischen globalen Bürgerkrieg zu spalten.
Im Gegensatz zu einem Großteil der Linken, die sich nach einer “neuen Normalität” sehnen, anstatt den bereits im Gange befindlichen Störungen Aufmerksamkeit zu schenken, glauben wir, dass, wenn wir unsere Fähigkeiten nicht nutzen, um unsere Gemeinschaften und unsere organisatorische Kapazität für den sozialen Kampf zu stärken, faschistische Regierungen, Milizen und Banden uns bei der Entwicklung überholen werden. Die Solidaritätsaktionen zwischen Gemeinden und der Kampf gegen den Faschismus auf der Straße lassen mögliche Szenarien für jeden antiautoritären Kampf, jetzt oder in der Zukunft, vorausahnen ; die Mittel, mit denen wir nach einer neuen Welt suchen, zeigen bereits, wie diese neue Welt aussehen sollte. Wer sich in seiner Nachbarschaft und auf dem Land organisiert, um Lebensmittel zu produzieren, wird nicht hungern müssen, wenn die Zentren des Kapitalismus vor dem globalen Zusammenbruch stehen. Wer Solidarität fördert, wird nicht um Ressourcen konkurrieren müssen, die durch ein System, das Eigentum individualisiert und konzentriert, erst knapp gemacht werden. Wer Selbstverteidigung organisiert, wird nicht der Gnade von Polizei, Armeen und anderen Söldnern ausgeliefert sein und um Verteidigung gegen faschistische Aggressoren betteln.
Die europäische Invasion dieses Landes im Jahr 1500 brachte mehrere tödliche Pandemien in Amerika hervor - die von den Europäern oft absichtlich als biologische Waffen eingesetzt wurden. Wahrscheinlich fragten sich auch die Inkas, Guaranis, Krenaks und Mapuches, die dieses Land bewohnten: “Wann wird sich alles wieder normalisieren?” Fünf Jahrhunderte später ist das, was der Kapitalismus zerstört hat, nicht mehr da. Diese Landschaften werden immer die Spuren tragen, die all die Welten hinterlassen haben, die hier zerstört wurden. Wenn wir eines aus der Vergangenheit lernen können, dann ist es, nicht auf die “Rückkehr” dessen zu hoffen, was war, sondern sich dem zu stellen und zu überwinden, was uns heute bedroht.
Hier erinnern wir uns an den Film Serras da Desordem (2016) unter der Regie von Andrea Tonacci, der Fiktion und Dokumentarfilm mischt, um Carapirú zu begleiten, einen Überlebenden des Massakers, das Bewaffnete an dem Volk der Awá-Guaja 1978 verübten. Carapirú wanderte 10 Jahre lang allein und legte dabei 2000 Kilometer zurück. Die im Film heraufbeschworene Katastrophe ist der Verlust einer Welt, ohne dass eine andere sie ersetzen kann. An einer Stelle im Film lesen wir die Schlagzeile einer Zeitung aus der Zeit einer Begegnung mit Carapirú: “Er tanzt, malt und lacht. Aber er ist traurig.”
Die Pandemie war etwas, das viele als Katastrophe erwarteten - aber als die Seuche schließlich eintraf, war es anders als wir es uns vorstellen konnten. Die Welt verhält sich nicht nach unseren Erwartungen, wie diejenigen, die eine Revolution anstreben, inzwischen wissen sollten. Wir wissen immer noch nicht und können nicht wissen, wie wir dieser Epoche begegnen sollen, weil unsere bisherige Lebensweise für immer verloren ist. Wir versuchen täglich, uns mit dem Undenkbaren zu konfrontieren - den Tod von Verwandten, Freund:innen, Fremden zu betrauern - unsere Arbeit fortzusetzen - zu überleben - jemanden zu umarmen - mit Zerstörung und Angst umzugehen. Wir versuchen immer noch, zusammen zu sein, auch wenn wir getrennt sind, und nehmen dabei die Erfahrungen von Individuen und Kollektiven auf, kämpfen und lernen zu kämpfen, bis wir endlich wieder aufatmen können.
“dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.”
-Albert Camus, Die Pest
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“Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.” -Mikhail Bakunin ↩
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Das MST bleibt eines der Hauptziele der Bundesregierung und der Bundesstaaten. In Minas Gerais wurden bei der Räumung der Siedlung Quilombo Campo Grande am 13. August 450 Familien vertrieben, die das Land seit mehr als 20 Jahren bewohnt und bewirtschaftet hatten, nachdem es von seinem Besitzer, der ein Vermögen an Steuern schuldete, verlassen worden war. Die Militärpolizei zerstörte die Gemeindeschule und setzte die Felder in Brand, ähnlich der Taktik, mit der der Islamische Staat in Syrien Bauern von ihrem Land vertrieb. ↩